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Rückblick

Goethe ist unser Zeitgenosse!


Literaturgeschichtliche Lehrerfortbildung im Wielandgut Oßmannstedt bei Weimar und im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt

Die Oßmannstedter Studientage für Lehrerinnen und Lehrer, eine Reihe von Wochenend-Fortbildungen, werden seit 2013 angeboten und haben sich als Format etabliert. Die Studientage eröffnen Zugänge zur klassischen deutschen Literatur – mit Goethe im Mittelpunkt – und zur Geschichte ihres Umfeldes. Sie beziehen ihr Profil aus dem Wechsel zwischen akademischer Auseinandersetzung – nah an der Wissenschaft – und der sinnlich erlebbaren Literatur- und Geschichtslandschaft in und um Weimar, also nah an den ‚Orten‘ und den ‚Dingen‘. Übernachtungs- und Tagungsort ist die Bildungsstätte im Wielandgut Oßmannstedt, fünf Eisenbahnminuten von Weimar entfernt. Das Gut gehört der Klassik Stiftung Weimar, wird aber betrieben von einem Verein für Bildung, der Weimar-Jena-Akademie. Die Oßmannstedter Studientage umfassen im Jahr bislang acht Wochenendseminare und zwei fünftägige Veranstaltungen (Studienwoche und Rom-Exkursion auf Goethes Spuren), die einzeln buchbar sind und die von Deutsch- und Geschichtslehrern aus dem gesamten deutschen Sprachraum besucht werden. Zwei weitere Veranstaltungen finden jährlich als Frankfurter Studientage für Lehrkräfte im Freien Deutschen Hochstift statt.

Die Fortbildungen entsprechen dem Wunsch vieler Lehrerinnen und Lehrer, sich mit akademischem Anspruch mit Literatur und Geschichte zu befassen, ohne sie unmittelbar zu „didaktisieren“. Insofern stehen fachliche Vorträge und die gemeinsame Lektüre klassischer Texte im Vordergrund. Die Teilnehmer/innen gewinnen neue Perspektiven auf ihre eigenen Gegenstände und so zugleich Motivation für die sich wandelnden Herausforderungen des Schulalltags. Denn es erweist sich, so Heike Schmoll, „die Souveränität im eigenen Fach als sicherste Rückzugsposition in schwierigen Unterrichtssituationen“ („Das ungeliebte Lehrerdasein“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. August 2018).Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf den Autoren, die mit Weimar (oder Frankfurt) verbunden sind. Zu den immer wieder besprochenen Werken gehören Goethes Faust-Dichtung und Schillers Dramen. Dieser Schwerpunkt entspricht weiterhin der Bedürfnislage der Gymnasien. In geringerem Umfang sind die Studientage auch anderen Autoren gewidmet, so Theodor Fontane – der sich von der Weimarer Klassik abgrenzte – und Thomas Mann – der Formen der literarischen Goethe-Imitatio erprobt und mit Lotte in Weimar den großen Goethe-Roman geschrieben hat. Dieser Kanon wird schrittweise um wichtige Autorenpersönlichkeiten erweitert, so um Christoph Martin Wieland als Zentralgestalt der Aufklärung, um Heinrich v. Kleist, der, Wielands Gast in Oßmannstedt, als Dramatiker zum wichtigsten Gegenspieler Goethes und Schillers wurde, und schließlich um Friedrich Nietzsche, dessen weltweit rezipierter Nachlass sich in Weimar befindet. Neben solchen literaturgeschichtlichen Veranstaltungen stehen Seminare, die den Geschichtsort Weimar im Ganzen erörtern und von dort ausgehend allgemeine Fragen der deutschen Geschichte im Spannungsfeld von ‚Weimar‘ und ‚Buchenwald‘, von ‚Klassik‘ und ‚Moderne‘ besprechen. Besonders die Oßmannstedter Studienwochebietet hierzu Spielraum, indem ebenso kulturelle wie politische Orte (Goethehaus und Buchenwald) aufgesucht und in Beziehung gesetzt werden.

Übernachtungs- und Tagungsort ist das Wielandgut Oßmannstedt („Wohnen im Dichterhaus“). Ins Blickfeld der Literaturgeschichte rückte das Gutshaus, weil Wieland, Romanautor, Journalist und Übersetzer, hier von 1797 bis 1803 gelebt hat, der zeittypischen Sehnsucht nach dem Landleben folgend. Er hat Oßmannstedt zu seinem „Osmantinum“ erklärt, nach dem Vorbild des Landgutes Sabinum, das der lateinische Dichter Horaz von seinem Mäzen Maecenas im ersten Jahrhundert v. Chr. in den Sabiner Bergen bei Rom erhalten hatte. Horaz, Sohn eines Freigelassenen, war auf diese Weise wirtschaftlich unabhängig geworden. Sein Leben auf dem Landgut wurde Späteren zur Chiffre der Unabhängigkeit des Dichters, ja zum Modell von unabhängiger Künstlerexistenz. 

Wieland war 1772 von Anna Amalia als Prinzenerzieher und Hofrat nach Weimar berufen und gut bezahlt worden. Mit Wieland war Weimar zum Literaturort mit überregionaler Ausstrahlung geworden. Auch in Oßmannstedt entfaltete er eine reiche schriftstellerische Arbeit; auch von hier aus gab er den Neuen Teutschen Merkur heraus, die führende deutsche Literaturzeitschrift. Hier entstand Wielands Altersroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, der – so Jan Philipp Reemtsma – „bedeutendste und komplexeste Roman, den Wieland je geschrieben hat“, ein „Vermächtnis seines Begriffs von Aufklärung“, geschrieben „zu einer Zeit, in der er [Wieland] die anti-aufklärerischen Ressentiments wachsen sieht, sieht, wie die Ideale kosmopolitischer Orientierung zugunsten eines neuen engstirnigen Nationalismus außer Kurs geraten“. Wirtschaftliche Gründe zwangen Wieland 1803 zur Rückkehr nach Weimar, wo er zehn Jahre später verstarb. 

Das Gut war Ort zahlreicher Begegnungen, darunter solche mit Goethe, Anna Amalia, Herder, Jean Paul und Johann Gottfried Seume (Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802); im Jahr 1799 war Sophie Brentano, die Enkelin von Wielands Jugendfreundin Sophie von La Roche, zu Gast. Sophie verstarb in Oßmannstedt und wurde an der Ilm bestattet, ebendort, wo später auch das Ehepaar Wieland beigesetzt wurde und wo sich bis heute ein idyllischer Landschaftsgarten befindet. Unter den Begegnungen in Oßmannstedt ist die mit dem jungen Kleist im Januar / Februar 1803 die berühmteste und die folgenreichste gewesen, und sie hat Oßmannstedt auch zu einem Kleist-Ort gemacht. Seinen Oßmannstedter Vortrag des fragmentarischen Robert Guiscard hat Kleist als den „stolzesten Augenblick“ seines Lebens bezeichnet.Oßmannstedt war für Kleist, der damals erst ein einziges Drama vollendet hatte, ein Schritt zum Durchbruch als Autor. 

Die Teilnehmer/innen der Studientage besuchen insofern einen Ort der Literaturgeschichte und machen in der ländlichen Abgeschiedenheit gemeinsame Erfahrungen der Konzentration wie der Erholung – im Wechsel mit verschiedenen Exkursionsterminen. Dabei zeigt sich, dass viele Lehrerinnen und Lehrer ein bleibend emotionales und sehr kenntnisreiches Verhältnis zur klassischen Literatur und insbesondere zu Goethe haben. Gleichwohl bedarf es für die Plausibilisierung im Unterricht einer Relevanz-Diskussion, eines Transparent-Machens: Was habe ich davon, diesen Autor, dieses Werk zu kennen? Ist die Auseinandersetzung mit Goethe für mich (als Schüler/in) „relevant“? Inwiefern vermittelt er mir mehr als Bildungsgut, inwiefern hilft er mir zum Leben in meiner eigenen Welt?

Im Eröffnungsseminar zur Faust-Fortbildung habe ich deshalb immer wieder die drei folgenden Thesen vorgestellt:

  • Goethes Zeitepoche ist eine Zeit der Zusammenbrüche wie der Modernisierungen – deshalb ist Goethes Zeit für uns relevant.
  • Goethes Werk ist ein Werk der Modernisierungen; seine Literatur greift Grundmotive der Weltliteratur auf und überführt sie, eigenständig neudichtend, in die Moderne – deshalb ist Goethes Werk für uns relevant.
  • Goethes Faust-Dichtung ist ein solcher Modernisierungsentwurf.

Zur ersten These: In Goethes langes Leben fallen (1) politische, (2) wirtschaftliche und (3) weltanschauliche Umbrüche, die Goethes Generation von allen vorherlebenden unterscheiden. Goethe ist Zeitzeuge von Zusammenbrüchen wie von Modernisierungen. (1) Goethe wächst noch im alten römisch-deutschen Reich auf und erlebt, wie selbstverständlich, die Kaiserkrönungen in Frankfurt mit, ja, beim Krönungsmahl Josephs II. 1764, ist er, folgt man Dichtung und Wahrheit, wie ein Zeitzeuge persönlich anwesend und er trägt, wie immer reinlich gekleidet, „eins der silbernen Gefäße“ hinein. Goethe erlebt das mit, was noch mittelalterlich geprägt war, die Ausläufer jahrhundertealter Riten („Goldene Bulle“). Gut vierzig Jahre später, 1806, ging durch die Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. das ein Jahrtausend währende Reich unter. Das Leben des alten Goethe, nochmals Jahre und Jahrzehnte später, führt zur Begegnung mit Napoleon, ja zum genauen Studium der Verhältnisse in den Vereinigten Staaten. All dies erlebt Goethe als Beobachter, als Zeitzeuge mit (im Unterschied zu Schiller, der gerade eben noch im alten Reich verstorben war). 

Neben der politischen Frage steht (2) der wirtschaftliche Umbruch, die industrielle Revolution. Den Übergang vom Kutschenzeitalter in eine Welt der Technik hinein hat Goethe begleitet, fasziniert und skeptisch zugleich. Goethe, einst im Herzogtum Sachsen-Weimar für die Wegebaukommission verantwortlich, wurde zu einem Beobachter der verkehrstechnischen Entwicklung. Er nahm Anteil an der Entwicklung der Dampfmaschine und an den Kanalbauvorhaben seiner Zeit, vom Rhein-Donau- über den Suez- bis zum Panama-Kanal. Er besaß ein Modell der „Rocket“, einer der ersten englischen Dampflokomotiven (als Faksimile im Goethe-Museum ausgestellt), die bis zu 47 km/h fahren konnte; damals waren viele Gebildete der Ansicht, es sei verrückt und gefährlich, eine Kutsche mit einer Dampfmaschine anzutreiben. All diese Fragen hat Goethe seiner wichtigsten Dichtung eingeschrieben: Fausts großes Landgewinnungsvorhaben ist ohne Hilfe von Maschinen nicht zu denken, ja das Unbehagen an der Beschleunigung hat Goethe in Gestalt der Verfluchung der Geduld zum Zentralmotiv gemacht („Und Fluch vor allem der Geduld“) – indem Faust das Verweilen verlernt, ja verleugnet.

Schließlich (3) die Säkularisierung, also eine weltanschauliche Revolution. Goethe wächst, noch wie selbstverständlich, in die lutherische Welt des alten Frankfurt hinein, aber er erlebt dieses als formelhaft erstarrt und nimmt dauerhaft eine kirchenferne Religiosität ein. In Goethes Lebenszeit weicht das geschlossene religiöses Weltbild der Barockzeit der historischen Kritik der Aufklärung und dem modernen Zweifel. Goethe ist auch hier Zeitgenosse, er ist Zeitzeuge eines, des großen Epochenumbruchs zur Moderne hin. Ist er nicht aber gerade damit unser Zeitgenosse, ein Verstehenshelfer der großen Umbrüche unserer Zeit? Erscheint nicht vor diesem Hintergrund – um auf die zweite und die dritte der Thesen zu kommen – Goethes Werk als literarische Verarbeitung des Umbruchs? Ist Goethe nicht der Fährmann, der den Bestand des alten Europa in eine neue Zeit zu bringen versucht und gerade so modernisiert? Ist Goethes Werk nicht ein Werk der modernisierten Subtexte, die der neuen Zeit angeboten werden? Gilt dies nicht sogar dort, wo vermeintlich das ‚Erlebnis‘ im Vordergrund steht, wie beim Werther? Sind nicht die Motive des Wanderers und des lesenden Liebespaares, das sich im Zeichen der Lektüre findet, alte Motive, die Goethe erneuert? Es gilt dies vor allem von Faust, dem großen Buch der Struktur- und Motiv-Zitate, und zwar im Einzelnen wie auch beim Gesamtaufbau des Stück. Die Figuren stammen aus dem Volksbuch des sechzehnten Jahrhunderts; die Dramenform zitiert mit ihrem himmlischen Vorspiel das spanische Barocktheater des siebzehnten Jahrhunderts, nämlich Calderóns Das große Welttheater, das von der großen Analogie ausgeht, das „Leben“ sei ein „Spiel“, die „Welt“ sei dessen „Bühne“, und der „Autor“ (und auch Zuschauer) sei Gott; im weiteren Verlauf öffnen sich zwei Bühnen übereinander, die mit einander in Verbindung stehen. Im Faust liegt aber kein vergleichbares Mysterienspiel mehr vor; die Oberbühne des Prologs im Himmel öffnet sich nicht mehr, sie bleibt verschlossen für den Zuschauer wie für die Figuren; Faust weiß nichts vom Prolog im Himmel, und er lebt ebenso wenig auf das hin, was sich in den Bergschluchten am Schluss andeutet („Das Drüben kann mich wenig kümmern“). Den Schauplatz betritt das moderne Individuum, eines, das seine Ausrichtung nach „drüben“ aufgegeben hat. Zugleich ist das ganze Buch aber vielfach angereichert um die gesamte Überlieferung, die man in lebenslänglicher Lektüre erschließen und allmählich verstehen kann.

Goethes Werk erscheint dabei als großes Sammlungsunternehmen. Das kann man in Weimar studieren, wo sich Goethes dingliche Sammlung befindet, die naturwissenschaftliche wie die kunstgeschichtliche, die einen Hauptreferenzpunkt der Oßmannstedter Studientage bildet. Neben dem dinglichen Sammeln steht aber das literarische Sammeln, das Sammeln von Motiven, von „Geschichten“, steht das Abklopfen und Prüfen, das Einschmelzen und Modernisieren. So verstanden wird Goethes Werk zu einem großen Spiegel für Transformationsprozesse überhaupt, und damit wird es möglich, Goethes Werk als Subtext der Modernisierung, der weitreichenden Transformationsprozesse unserer Tage zu verstehen. Dieser Einsicht versuchen sich die Oßmannstedter Studientage zu stellen, um sie für die Relevanzdiskussion in der Schule fruchtbar zu machen. Dafür richten sie sich künftig noch mehr an avancierten Fragestellungen gegenüber bisherigen an kanonzentrierten Angeboten aus. Denn dem Interesse an historischer Literatur – das weiß jeder Deutschlehrer, und das soll jeder Schüler zu seiner eigenen Entlastung wissen – liegt immer die Einsicht zu Grunde, dass diese mit unseren eigenen Fragestellungen korreliert, dass sie uns etwas ‚angeht‘. Das gilt von Goethe, und es gilt natürlich von den eingangs erwähnten Autoren genauso, denen die Studientage gewidmet sind.

Die Oßmannstedter Studientage, in der ersten Jahreshälfte durch die Maßnahmen gegen das Corona-Virus unterbrochen, finden im Herbst 2020 wieder statt und sollen mittelfristig zu einem nachhaltigen Angebot der Lehrerbildung mit Jahresvollprogramm ausgebaut werden, begleitet von den Studientagen in Frankfurt und begleitet auch von Veranstaltungen in den Schulen selbst. Auch künftige Partnerschaften mit literarischen Gesellschaften können ein Baustein der Weiterentwicklung sein, da diese ihrerseits Gymnasiallehrer/innen als neue Zielgruppe entdecken.

Programm
www.weimar-jena-akademie.de und www.goethehaus-frankfurt.de

Kontakt
paul.kahl@posteo.de


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