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Olaf L. Müller: Ultraviolett: Johann Wilhelm Ritters Werk und Goethes Beitrag – zur Biografie einer Kooperation

von Andreas Rumler

Beeindruckend ist Goethes Fähigkeit, seine Bereitschaft, sich immer wieder auf neue Erfahrungen einzulassen, Neuem offen mit Interesse und Neu-Gier im besten Sinn zu begegnen. Ein Beispiel: sein Modell von Stephensons Lokomotive „Rocket“ samt Tender und einem Waggon; in seinen Sammlungen hat der kleine Zug bis heute überdauert. Auch eine seiner Kutschen kann man am Frauenplan besichtigen, längere Fahrten über schlechte Landstraßen kannte er. Vielleicht hat er sich auch deshalb für andere Möglichkeiten des Reisens interessiert. 

Bahnbrechende Ergebnisse erhoffte Goethe sich von seinen naturwissenschaftlichen Forschungen. Er versuchte, Isaac Newtons Spektralanalyse zu widerlegen. Speziell die „Farbenlehre“, sein umfangreichstes Werk, betrachtete Goethe als seine größte Leistung. Er korrespondierte über Ergebnisse und Methoden seiner Untersuchungen mit Freunden und Kollegen, unter anderem auch mit Johann Wilhelm Ritter. Über diese erfolgreiche Kooperation und das Verhältnis der beiden Naturwissenschaftler hat Olaf L. Müller jetzt eine mit 623 Seiten ebenfalls recht voluminöse Untersuchung vorgelegt: „Ultraviolett. Johann Wilhelm Ritters Werk und Goethes Beitrag – zur Biografie einer Kooperation“. Ritter ließ sich von Goethes Überlegungen anregen und bemerkte bei den von Goethe initiierten Experimenten die UV-Strahlung: „eine bahnbrechende Entdeckung“ (S. 13), wie Müller in seiner Einleitung schreibt. 

Goethe vermutete, das Farbenspektrum sei symmetrisch, was zwar nicht stimmte, aber Ritter auf entscheidende Ideen brachte und ihn eine Spur aufnehmen ließ, die 1801 zur Entdeckung des Phänomens der UV-Strahlen führte, das er zunächst als „de-oxidierende Strahlen“ bezeichnete, um ihre chemische Wirkungskraft zu betonen. Ob Ritter deren künftige Bedeutung für Industrie, Forschung und Medizin bereits erkennen konnte, vermag man nur zu vermuten. 

Legion sind die Biografien Goethes, Ritter hingegen dürfte eher unbekannt sein in weiteren, nicht speziell naturwissenschaftlich interessierten Kreisen. In seinem Vorwort „Zum Geleit“ bringt Stefan Matuschek, Herausgeber der Schriften der Goethe-Gesellschaft und ihr Präsident, das Leben des am 16. Dezember 1776 in Samitz bei Haynau in Schlesien und bereits in recht jungen Jahren am 23. Januar 1810 in München verstorbenen Physikers und Philosophen der Frühromantik Johann Wilhelm Ritter auf die schöne Formel: „Neben der Entdeckung der UV-Strahlen war er ein erfolgreicher Galvanismus-Forscher, erfand er den Akkumulator, inspirierte die Jenaer Frühromantiker, insbesondere Novalis, und verlor am Ende seinen guten Ruf, indem er die Wirkung von Wünschelruten nachweisen wollte.“ (S. 9.)    

Ein Reiz von Müllers „Biografie einer Kooperation“ liegt in seiner extrem detaillierten Darstellung des Verhältnisses beider Partner, der Nachzeichnung ihres nicht immer konfliktfreien Umgangs miteinander. Unter der Überschrift „Goethe genervt?“ fragt Müller: „Wenn die Überlegung aus dem vorigen Paragraphen richtig ist, müssen wir als nächstes fragen: Warum ist Goethe nicht in Begeisterungsstürme ausgebrochen? Warum hat er keine Hekatombe geopfert, kein Heurekamen! gerufen und Ritter nicht beglückwünscht? Darüber können wir nur spekulieren.“ (S. 370) Und das unternimmt Müller dann sogleich gewissenhaft. 

Ausgesprochen reflektiert lesen sich auch die ausführlichen Erläuterungen seines Vortrags, wenn er unter dem Wort „Vorschau“ ankündigt: „Um meine Rekonstruktion des Streits abzusichern, muss ich eine Reihe von Aufgaben erledigen.“ (S. 361) Oder: „Aus guten Gründen habe ich den letzten Satz zurückhaltend formuliert.“ (S. 390) In den 6 Kapiteln dieser „kleinschrittig-minutiösen Doppelbiografie“ (Matuschek, S. 9) begründet Müller immer wieder die eigene Vorgehensweise, gibt Tipps zur Verwendung und rät sogar, wie man die Lektüre abkürzen kann: „Die Anmerkungen in den Fußnoten muss man nicht lesen, um meinem Gedankengang zu folgen; sie enthalten mit Ausnahme der jetzigennichts anderes als langweilige Literaturverweise, fremdsprachige Originalzitate sowie manchmal eine knappe Erörterung zu deren Übersetzung und deren Interpretation2.“ (S. 17 f.) Vorangestellt hat Müller diesen Kapiteln jeweils eine ausführliche „Zeittafel“ und gibt mitunter als ebenfalls zeitsparende Offerte ein „Fazit“ wie auf S. 109 oder ein „Zwischenfazit“ (S. 353). Angefügt ist den Kapiteln häufig eine „Vertiefungsmöglichkeit“ (so S. 108 f.), in der Müller ergänzende Überlegungen ausführlich erläutert. Hilfreich zum Verständnis sind eine Reihe von Abbildungen und vor allem die Farbtafeln, die Goethes und Ritters Vorgehen nachvollziehbar werden lassen. (S. 305-320)

Seinen beiden Protagonisten begegnet Müller mit Sympathie, aber nicht unkritisch und legt Wert darauf, ihre Eigenarten und Charaktere möglichst exakt auszuloten: „Unter universitätsbürokratischem Blickwinkel ist Ritter in Jena ungefähr das gewesen, was wir heute als ewigen Studenten bezeichnen“ (S. 112), und zwar aus wirtschaftlichen Gründen. Er habe unter finanziellen Schwierigkeiten gelitten, hoffte auf eine Karriere an der Universität und wohl auch auf eine Förderung durch Goethe. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht, aber immerhin schlug sich ihre Kooperation in Goethes Werk nieder, und zwar nicht nur in der „Farbenlehre“. Freilich nicht unbedingt in einer Weise, die Ritter erfreut hätte. So kann Müller darauf hinweisen, dass Goethe einen „nicht fertiggestellten Disputationsakt des ‚Faust I‘“ geplant hatte, in dem „u. a. eine Auseinandersetzung zwischen Faust und Mephisto zum Fluoreszieren der Leuchtsteine vorgesehen war“ (S. 387), und zwar nur wenige Tage, nachdem beide über diese Thematik gesprochen hatten. Und am 23. 2. 1807: „Hegel berichtet von Goethes Witzen über Ritters Wünschelruten“ und als Folge davon: „1809 Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ erscheinen mit Anspielungen auf Ritters Experimente mit sideristischen Pendeln.“ (S. 447) 

Ein Wort noch zum Autor: Olaf L. Müller studierte in Göttingen und Los Angeles Philosophie, Mathematik, Informatik und Volkswirtschaftslehre. Seit 2003 lehrt er als Professor für Naturphilosophie an der Humboldt-Universität Berlin. In seinen bisherigen Veröffentlichungen, wie beispielsweise „Zu schön, um falsch zu sein. Über die Ästhetik in der Naturwissenschaft“ (2019) oder „Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben“ (2015), hat er sich bereits als profunder Kenner ähnlicher Themen präsentiert.

Mit erstaunlicher Akribie und Gewissenhaftigkeit hat Olaf L. Müller hier eine Doppelbiografie vorgelegt, in der er detailliert belegt, welch verschlungene und widersprüchliche Wege die Wissenschaft mitunter nimmt. Oder um noch einmal Stefan Matuschek zu zitieren: „Falsche Annahmen, so zeigt sich hier, können zu richtigen Entdeckungen führen.“ Müller stelle das aber „nicht als Kuriosum dar, sondern als einen Normalfall der Wissenschaftsgeschichte.“ (S. 9) Ein Normalfall, der freilich aus dem üblichen Rahmen fällt, sich mitunter spannend wie ein Krimi liest.

Olaf L. Müller
Ultraviolett: Johann Wilhelm Ritters Werk und Goethes Betrag – zur Biografie einer Kooperation

Wallstein Verlag, Göttingen 2021
623 S.
ISBN: 978-3-8353-3978-1

Preis: 39,90 €

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2021.


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