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Neue Bücher

Fortsetzung der Hauptversammlung mit anderen Mitteln – erste Lektüreeindrücke anhand des neuen Jahrbuchs


Als „unzeitgemäßer Avantgardist“ (S. 11) erscheint Goethe dem neuen Präsidenten der Goethe-Gesellschaft Stefan Matuschek angesichts seines Spätwerks, „dem 20. und 21. Jahrhundert verwandter […] als seiner eigenen Gegenwart.“ (S. 11) Goethe – bis heute moderner und relevanter, als seine damaligen Mitbürger ihn wahrnahmen. Nachzulesen ist diese Einschätzung im neuen Jahrbuch von 2019, bereits der Nr. 136 in einer langen, stattlichen Folge. Ein besonders beeindruckendes Beispiel der Alterswerke Goethes, der „West-östliche Divan“, erschien 1819, und damit bot sich die Gelegenheit, die Hauptversammlung 200 Jahre später einem Zyklus zu widmen, der bei seinen Zeitgenossen mitunter auf Unverständnis stieß, aber bis heute an Gehalt und Interesse wenig verloren hat. Das zeigt einmal mehr ein großer Teil der Beiträge in diesem Jahrbuch und das bewies auch die lebhafte Diskussion des Podiums „Goethe weltweit“, für dessen Gedankenaustausch wieder Germanisten und Goethe-Anhänger lange Anreisen zur Hauptversammlung in Kauf genommen hatten.

Erinnerung an die Hauptversammlung

Eröffnet wurde die 86. Hauptversammlung im Deutschen Nationaltheater mit einer Ansprache des nach langen, erfolgreichen Jahren scheidenden Präsidenten Jochen Golz, künftig will er seine Kenntnisse und Fähigkeiten als Stellvertreter zum Wohl der Gesellschaft einbringen. Er erinnerte an Goethes Eröffnungsgedicht „Hegire“ des „Divan“, der damit „ein poetisches und poetologisches Programm“ (S. 15) entworfen habe, als Europa nach und von den Napoleonischen Kriegen zerrissen „zwischen Hoffen und Bangen schwebte, nach Jahren des Leidens auf einen Frieden hoffte.“ (S. 15) In einer Gegenwart, die wieder von Krisen und Kriegen belastet ist, sei „Goethes Plädoyer für verständnisvolle Anerkennung jedweden Andersseins, für eine offene Kommunikation zwischen den Kulturen“ unverändert aktuell. (S. 15) Diesem Plädoyer solle die Hauptversammlung Geltung verschaffen.  

Auch das neue Jahrbuch folgt wieder dem bewährten Muster. Auf Essays zum Thema der Hauptversammlung: „Goethes ‚West-östlicher Divan‘ aus heutiger Sicht“ (S. 19 – 41) folgen die „Vorträge während der 86. Hauptversammlung“ (S. 43 – 126). Die „Abhandlungen“ (S. 127 – 213) und die nächsten Rubriken „Goethe philologisch. Neue (und ältere) Projekte“ (S. 215 – 254), „Goethe-Bücher der Vergangenheit neu gelesen“ (S. 255 – 262) sowie „Dokumentationen und Miszellen“ (S. 263 – 310) schließen sich an. Danach beginnt ein weiterer Bereich, den man salopp als „Dienstleistungen“ bezeichnen könnte. Einerseits im Dienst der Wissenschaft und weltweit von Germanisten beachtet: „Rezensionen“ (S. 311 – 367) und andererseits zur Information der Mitglieder: „Aus dem Leben der Goethe-Gesellschaft“ (S. 369 – 454).     

Für die Festrede „Turban und Krone“ (S. 43 – 51) konnte der Vorstand Felicitas Hoppe gewinnen. Sie verglich Goethes „Divan“ mit einem fliegenden Teppich, „dessen Webmuster zwischen Lyrik und Prosa, Dialog, Parabel und Rollenspiel schwer zu beschreiben“ (S. 43) sei, sowie auch mit einem „Zaubermantel“ (S. 43). Versehen mit diesen Kräften habe Goethe sich, „allen Risiken und Nebenwirkungen zum Trotz, über ‚Fels und hohe Mauern‘“ erhoben, um „die enge Landschaft seiner beamteten Sesshaftigkeit hinter sich zu lassen.“ (S. 43) In Hameln geboren, fühle sie sich Goethe auch wegen dessen Gedicht „Der Rattenfänger“ verwandt und berichtete, dass sie selbst, um sich „ein Taschengeld zu verdienen“ (S. 44), kostümiert als Ratte „mit Schnurrbart und Schwanz versehen, Wurst in der Linken, Brot in der Rechten“ (S. 44) auf dem Marktplatz als Begleiterin eines ebenfalls kostümierten Rattenfängers vor Touristen aufgetreten sei – rund 200 Jahre nach dem Erscheinen von Goethes Gedicht.    

Unterschiedlichen Aspekten des „Divan“ und seiner Rezeptionsgeschichte galten die Vorträge während der Hauptversammlung und gelten jetzt einige Abhandlungen des Jahrbuchs. „West-östliche, ost-westliche Verbindungen. Goethes ‚Divan‘ als Modell – anhaltend aktuell“ (S. 19 – 26) hat Anke Bosse ihre Untersuchung überschrieben und konstatiert, das „permanente Oszillieren zwischen […] vermeintlichen Gegensätzen“. Goethes „komplexe Hybride, die West und Ost, Eigenes und Anderes, Vertrautes und Fremdes mischen“, habe „das zeitgenössische Publikum offensichtlich überfordert.“ (S. 19) Dagegen sei „unserer globalisierten Welt“ ein „Mischen von Sprachen, Literaturen, Kulturen deutlich vertrauter.“ (S. 19) Zwar sei die Geschichte der Menschheit eine Migrationsgeschichte, doch konnte das Bewusstsein dafür erst langsam wachsen. Goethes Konzept einer „Weltliteratur“ überbrücke Zeiten, Räume und Kulturen und nehme poetisch im „Divan“ Gestalt an. Angenehm berührt wäre Goethe vielleicht, wüsste er, dass sein Titel „West-östlicher Divan“ inzwischen „ein ‚Label‘ für kulturübergreifende Verständigung und weltweiten (künstlerischen) Austausch geworden“ sei. (S. 20)    

Der „Divan“ und seine produktiven Aneignungen

Als „ein Buch von dringlicher politischer Gegenwärtigkeit“ (S. 27) begreift Heinrich Detering den Zyklus: „‚Im Islam leben und sterben wir alle‘. Goethes ‚Divan‘ im Kontext“ (S. 27 – 30). Man dürfe den „Divan“ allerdings nicht nur auf Goethes Offenheit gegenüber dem Islam reduzieren. Goethe habe sich den Erwartungen der Gegner Frankreichs, 1813 „ein antinapoleonisches, antifranzösisches, national stärkendes Wort“ zu liefern, entzogen: „Und zwar so weit fort wie nur möglich, im Raum und in der Zeit.“ (S. 27) Und Heinrich Detering weist auf Anregungen hin, die andere Autoren aus dem „Divan“ gewannen und die sie produktiv werden ließen: von August von Platen bis hin zu Rainer Maria Rilke. Sogar Karl Mays Orient-Romane ließen sich „in der der Nachfolge dieser spezifisch Goethe’schen Islam-Rezeption (auch) als aufgeklärte Kompendien des zeitgenössischen Wissens über die Welten der Muslime“ lesen: „frappierend kenntnisreich, sympathisierend und trotz aller Überlegenheitsgesten verständniswillig“ (S. 29)     

Ausführlich setzt Anne Bohnenkamp sich mit der Aufnahme und Wirkung auseinander: „‚Divan‘-Rezeption im 19. Jahrhundert“. (S. 52 – 66) Offenbar irritierte und verunsicherte Goethes Werk viele Leser, ambivalent „blieb das öffentliche Echo“ (S. 52). Der „Divan“ sei eine „wichtige Station auf dem Weg zu seiner Idee einer ‚Weltliteratur‘“. (S. 52) Das Publikum vermisste klare Angaben, welche Texte von Goethe selbst stammten, welche er übersetzt habe oder wo er Anregungen gewann. Und es missfiel Lesern, dass Goethe sich dem Orient zuwandte, „als die Zeitgenossen Kriegs- und Freiheitslieder dichteten.“ (S. 56) Von „einer geradezu demonstrativen Nichtachtung der ‚Divan‘-Lyrik“ sei die „öffentliche Reaktion der Romantiker“ (S. 60) geprägt gewesen. „In der Auseinandersetzung mit Goethe […] ging es ihnen offensichtlich nicht um die Dichtung (und auch nicht wirklich um den Orient), sondern um Differenzen in den gegenwärtigen – auch religiösen – Weltanschauungen und den Kampf um symbolisches Kapital, was der Wahrnehmung des Gemeinsamen und Verbindenden im Wege stand.“ (S. 64) Anders, nämlich anerkennend, reagierte Heinrich Heine. August von Platen und Friedrich Rückert ließen sich vom „Divan“ zu eigenen Dichtungen inspirieren. 

Produktive Aneignungen verschiedener Art betrachtet Andrea Polaschegg: „‚Divan‘-Resonanzen der Gegenwart“. (S. 86 – 102) Immer wieder erstaunt, in welchen Zusammenhängen auf Goethes Gedichtsammlung angespielt wird: Die Titel von Verlagsreihen, Essays und Stiftungen, sogar von Ratgeberliteratur für Bogenschützen greifen Goethes Formulierung auf. Und: „Nicht minder beliebt ist die Wendung ‚Stirb und werde‘ aus ‚Selige Sehnsucht‘.“ (S. 86) Sie gab einem Fernseh-Tatort den Namen und damit sei „Goethes ‚Divan‘ dann endgültig im deutschen Durchschnittswohnzimmer angekommen“. (S. 87) Freilich war Goethe, edel in Leder gebunden ediert, in gutbürgerlichen Bücherschränken als „akademische Tapete“ schon früher zu finden. 

Ernsthafter griffen Romanciers Goethes Werk auf: etwa Thomas Lehr in „September. Fata Morgana“ (S. 98) und Michael Kleeberg: „Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan“ (S. 98). Und natürlich Lyriker, nicht allein hierzulande. Davon berichtet Stefan Weidner: „West-östliches Spiegelkabinett? ‚Divan‘-Motive in arabischer Lyrik heute“ (S. 115 – 126). Und es erschien: „Ein neuer Divan. Ein lyrischer Dialog zwischen Ost und West.“ Er wurde herausgegeben von Barbara Schwepke und Bill Swainson. Das Werk kam gleichzeitig in Berlin bei Suhrkamp sowie auf Englisch in London heraus, passenderweise in einem Verlag namens Gingko. Ausführlich angesehen hat sich Frieder von Ammon beide Bände (S. 346 – 349) und kommt zu dem Schluss, die Lektüre sei „überaus anregend, man langweilt sich auf keiner Seite. Im Gegenteil: Es bereitet große Freude, den teilweise überraschenden Wendungen dieses weltliterarischen Polylogs zu folgen.“ (S. 349) Nachzulesen in der langen Reihe von „Rezensionen“. 

Dort stellt Hans-Joachim Kertscher auch die neue Studie von Bertold Heizmann vor: „Im Schatten Goethes. Kotzebue“ (S. 350 – 352). Goethes Abneigung habe ihn tief getroffen, liest man und ahnt, trotz der sehr freundlich formulierten ablehnenden Urteile, was Goethe gestört haben könnte, wenn da von „Rührseligkeit“ (S. 350) die Rede ist. Und zugleich begreift man einmal mehr, wie sehr als international anerkannter Autor Goethe seinen zeitgenössischen Kollegen zugleich Ansporn und Vorbild war – zumindest für Kotzebue – aber auch ein Ärgernis: als literarischer Übervater schwer zu erreichen. Aber solche Rivalitäten sind ja bis heute unter zeitgenössischen Autoren nur zu bekannt. 

Goethes weltweites Echo hallt lange nach 

Häufiger findet man in alten Goethe-Ausgaben Marginalien, die belegen, wie und was Schüler früher bei der Lektüre etwa des „Faust“ gelernt haben. Inzwischen hat sich die Pädagogik und haben sich die Fragen, die moderne Philologen an den Text stellen, weiterentwickelt. Cornelia Köhler hat nun eine bemerkenswerte Edition in zwei Unterrichts-DVDs vorgelegt, die „Johann Wolfgang Goethe I. ‚Faust. Der Tragödie erster Teil‘“ und als DVD „Johann Wolfgang Goethe II. Ausgewählte Werke“ präsentieren. Hans Joachim Jakob hat sie ausgiebig untersucht (S. 353 – 355) und war offenbar recht angetan: Die Regisseurin wende sich „von einer trockenen Faktographie ebenso ab wie von langwierigen Textauslegungen und -erklärungen“ (S. 355) und konstatiert, die DVDs seien „für den Deutschunterricht der Sekundarstufe II bestens geeignet, aber auch für den germanistischen Lehrbetrieb an der Universität.“ (S. 355) Vielleicht lassen sich solche DVDs oder andere moderne Medien ja benutzen, um innerhalb unserer Ortsvereinigungen Diskussionsabende zu gestalten und mit dieser Technik auch jüngere Leute anzusprechen.    

Das Motto des Diskurses „Goethe weltweit“ spiegeln natürlich auch die zahlreichen Rezensionen wieder, fast ist man versucht von einem weit und lange nachhallenden Echo über Kontinente und Jahrhunderte zu sprechen. Sei es, dass die Rezensionen neue Studien mit internationalem Blick vorstellen wie die von Theo Buck: „Goethe und Frankreich“ (besprochen von Raymond Heitz, S. 330 – 332) oder Arbeiten ausländischer Germanisten: aus Italien von Gabrio Forti: „La cura delle norme. Oltre la corruzione delle regole e dei saperi“ (besprochen von Albert Meier, S. 326 – 327) oder Marino Freschi: „Goethe massone“ (besprochen von Mario Zanucchi, S. 327 – 330) und Brasilien: Marcus Vinicius Mazzari: „A dupla noite das tílias. História e natureza no »Fausto« de Goethe“ (besprochen von Helmut Galle, S. 352 – 353). 

Weltweite Kontakte können in Krisenzeiten besonders hilfreich sein. Als Thomas Mann vor dem Nazi-Terror erst aus Deutschland und dann aus Europa fliehen musste, nahm er seine literarischen Vorlieben mit und konnte sogar seine Goethe-Ausgaben ins amerikanische Exil holen. Stefan Keppler-Tasaki hat deren Weg recherchiert: „Goethe in Kalifornien. Thomas Mann und die Weimarer Ausgabe“ (S. 199 – 213). Während seine meisten Goethe-Ausgaben wieder mit Thomas Mann nach Europa in die Schweiz zurückkehrten, „als er im Juli 1952 mit stillem Entsetzen über die politischen Hexenjagden in Amerika ein weiteres Mal emigrierte“ (S. 203), verblieb die Weimarer Sophien-Ausgabe, als Geschenk seiner Schwiegermutter Hedwig Pringsheim ihm ins Exil gesandt, bevor das Ehepaar Pringsheim selbst in die Schweiz entkommen konnte, in den USA und steht heute im Thomas Mann House Los Angeles, Pacific Palisades. Seine Lesespuren darin geben Aufschluss über Thomas Manns Arbeit: „Die Weimarer Ausgabe scheint damit die Rolle eines Spätlings der Entstehungsgeschichte von ‚Lotte in Weimar‘ und der Entwicklung von Thomas Manns Selbstbespiegelungen in Goethe zu spielen.“ (S. 213)           

Wie sehr Wissenschaft und Rezeption sozialen, politischen und geschichtlichen Bedingungen unterworfen sind und deshalb selbst irgendwann literarhistorisch von Interesse, begreift man bei der Lektüre von Stefan Matuscheks Essay „Fritz Strichs ‚Goethe und die Weltliteratur‘“ (S. 255 – 262) in der Rubrik „Goethe-Bücher der Vergangenheit, neu gelesen“. Fritz Strich veröffentlichte es 1946, schrieb im Vorwort, er habe es „in den Dienst der Völkerversöhnung“ (S. 255) stellen wollen. Damals lag Deutschland in Trümmern, in Frankfurt wie auch in Weimar, das Haus am Frauenplan war schwer beschädigt. Als deutscher Bürger jüdischen Glaubens hatte Fritz Strich Krieg und Shoah in der Schweiz überlebt. Offenbar vertrat er recht traditionelle, jetzt nicht mehr unbedingt zeitgemäße Vorstellungen der Germanistik, deshalb bescheinigt Stefan Matuschek seinem Buch „heute ein eher romanhaftes als wissenschaftliches Interesse“ (S. 262) und vergleicht Fritz Strich mit der Figur des Serenus Zeitblom aus dem „Dr. Faustus“: „Thomas Manns fiktiver Bildungsbürger malt aus, wie es Schritt für Schritt zum Nationalsozialismus hat kommen können.“ (S. 262) Goethes Konzept von Weltliteratur, wie Fritz Strich es verstand, „erscheint darin als einsamer Rettungsversuch“ (S. 262) gegenüber der militärisch überwundenen nationalsozialistischen Diktatur.              Insgesamt bietet dieser Band wieder gleichermaßen spannende und anregende Einblicke in die aktuelle Goethe-Forschung, präsentiert und bewertet die neueste Literatur zum Thema als Medium eines weltliterarischen Polylogs – ein ideales Forum zwischen den Hauptversammlungen, um den globalen Kontakt nicht abreißen zu lassen. Wenn man so will, kann man das Jahrbuch als Fortsetzung der Hauptversammlung mit anderen Mitteln begreifen, sich einmal mehr in die Vorträge vertiefen, es hilft, sich der lebhaften Debatten zu erinnern und sie vor Ort, fern von Weimar, gedanklich weiterzuführen: bis zur nächsten Hauptversammlung.

Goethe-Jahrbuch 136, 2019
Herausgegeben von Frieder von Ammon, Jochen Golz, Stefan Matuschek und Edith Zehm

Wallstein Verlag, Göttingen 2020
454 S. 
ISBN 978-3-8353-3814-2

Preis: 29,95 € 

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 4/2020.


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