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Der „Hyper-Influencer“ von Weimar – Christa Lichtenstern stellte im Düsseldorfer Goethe-Museum ihr neues Buch zum „Plastiker“ Goethe vor

von Andreas Rumler

Universell interessiert und wissbegierig wie nur wenige seiner Zeitgenossen war Goethe, ein Universalgelehrter im besten Sinn. Bis ins hohe Alter informierte er sich, korrespondierte, bemüht, mit seinen Kenntnissen auf der Höhe der Zeit zu sein. Besonders wichtig war Goethe als Naturwissenschaftler seine „Farbenlehre“, er betrachtete sie als seine größte Leistung. Als Augenmensch sammelte er Eindrücke und vermittelte sie: in seinen Dichtungen und bei der Betrachtung von Kunst mit Gesprächspartnern. Ganze Bibliotheken haben Freunde seines Werks veröffentlicht über seine lyrischen, dramatischen und Werke autobiografischer Art.

Einen neuen oder weniger bekannten Zugang zu diesem gewaltigen und vielfältigen Œuvre zu finden, ist nicht leicht, gelang aber der Berliner Kunsthistorikerin Christa Lichtenstern, indem sie Goethes Verhältnis zu plastischer Kunst untersuchte. Christa Lichtenstern amtierte bis zu ihrer Emeritierung 2008 als Lehrstuhlinhaberin und Direktorin des Kunstgeschichtlichen Instituts an der Universität des Saarlandes. Dieser spezielle Blick macht den Reiz ihrer Arbeit aus.

Überraschendes Bekenntnis

Deren Ergebnis stellte sie im Düsseldorfer Goethe-Museum vor, gemeinsam mit dessen Direktor, Professor Dr. Christof Wingertszahn. Unter dem Titel eines eher nicht zu erwartenden und überraschenden Bekenntnisses von Goethe: „Ich bin ein Plastiker“, hat sie im Deutschen Kunstverlag ihre Studien veröffentlicht: „Goethes ungeschriebene Skulpturästhetik“ – so der Untertitel. Der Titel geht auf eine Unterhaltung mit Sulpiz Boisserée zurück. Ihm gegenüber hatte Goethe sich in einem Gespräch 1826 im Juno-Zimmer als „Plastiker“ bezeichnet. Erstaunlich eigentlich, dass es über Goethes Verhältnis zur plastischen Kunst – verglichen mit der übrigen Goethe-Literatur – wenige Veröffentlichungen gibt. Allein an seiner stattlichen Sammlung von Gips-Abgüssen und kleineren Skulpturen im Haus am Frauenplan, seinem Einfluss auf das Figurenprogramm im Stadtschloss und Denkmäler im öffentlichen Raum, lässt sich erkennen, wie viel ihm die Arbeit von Bildhauern bedeutete.

Statt Passagen aus der mehr als 200 Seiten umfassenden und reich illustrierten Untersuchung zu lesen, stellte Christa Lichtenstern ihre Überlegungen an Hand von Lichtbildern vor. Wie Goethe mit Freunden und Kollegen Zeichnungen und Reproduktionen von Gemälden besprach, so erörterte er mit ihnen auch seine Vorstellungen von künstlerisch gestalteter Plastik. Mit bedeutenden Künstlern seiner Zeit stand er in Verbindung, ließ sich von ihnen beraten und erlebte, wie sie sich von seinen Überlegungen inspirieren ließen. Noch interessanter ist allerdings die Tatsache, dass auch moderne, zeitgenössische Künstler unserer Tage, sich von Goethe anregen ließen.

Persönliche Kontakte

Ihr Buch hat Christa Lichtenberger in drei zentrale Schwerpunkte unterteilt: „Im Echoraum der Gegenwart“ (S. 8-18), „Goethe und die Skulptur“ (S. 22-97) sowie „Aspekte einer ungeschriebenen Skulpturästhetik“ (S. 98-141). Jeweils kurz gerahmt werden diese Blöcke durch die Ein- und Überleitungen „Vorwort“, „Einführung“ und ein „Fazit“. Dank der Abbildungen aus ihrem Band, eine davon hatte sie mit Hilfe von Frau Dr. Heike Spies, der Stellvertretenden Direktorin und Kustodin in der großartigen Sammlung der Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung ausfindig machen können, referierte sie frei ihren Gedankengang mit Witz und Charme, erläuterte ihre Erlebnisse, wie sie, etwa im persönlichen Kontakt mit Henry Moore, zu ihren Erkenntnissen gelangen konnte. Wichtige Anregungen verdanke sie auch ihrem Lebenspartner, dem Bildhauer Emil Cimiotti, mit dem sie bis zu seinem Tod 2019 in Wolfenbüttel lebte. Inzwischen wohnt sie wieder in Berlin.

Stein des guten Glücks im Garten von Goethes Gartenhaus (Copyright: Klassik Stiftung Weimar, Bestand Fotothek / Thomas Müller)

Goethe habe selbst modelliert und an eigene Skulpturen Hand angelegt, erläuterte Christa Lichtenstern, deshalb sei es legitim, dass er sich als „Plastiker“ bezeichnete. Klassisch gebildet seit der umfassenden Betreuung im Frankfurter Elternhaus, verstand er Plastik über die Herleitung aus dem altgriechischen Wort plassein, es bedeute bilden, formen, gestalten. Bekannt sind seine Denkmalsentwürfe, etwa der „Stein des guten Glücks“, eine auf einem Kubus ruhende Kugel, nahe seinem Gartenhaus im Park an der Ilm. Es ist eines der ersten abstrakten, nichtfigürlichen Denkmäler in Deutschland. Am 5. April 1777 notierte Goethe die Vollendung in seinem Tagebuch: „Agathe Tyche gegründet!“ – es galt ihm auch als „Altar der Agathé Tyché“. Bekannten Künstlern wie Johann Gottfried Schadow, Christian Friedrich Tieck und dem Freund Christian Daniel Rauch lieferte Goethe Entwürfe für Denkmäler.

Heiterkeit

Weniger bekannt dagegen dürfte sein, dass Goethes Überlegungen zur Kunst auch moderne Bildhauer wie Andreu Alfaro, Joseph Beuys, Eduardo Chillida, Ewald Mataré oder eben Henry Moore beeindruckt und beeinflusst haben. Mit Heiterkeit reagierte das trotz einer Gewitterwarnung zahlreich im Saal des Schlosses Jägerhof erschienene Publikum, als Christa Lichtenstern Goethe salopp als „Hyper-Influencer der Kunstwelt um 1800“ charakterisierte. Doch genau diesen prägenden Einfluss belegen ihre Studien: In den Korrespondenzen mit Künstlern und Kunst-Theoretikern lässt er sich nachlesen.

Auch selbst war Goethe gestalterisch tätig im Bereich des Übergangs vom Bild zur Skulptur. So entwarf er im Jahr 1816 einen Einband der Zeitschrift „Kunst und Alterthum in den Rhein- und Mayngegenden“. Der zeigt die Sonne der Aufklärung auf dem Frontispiz, zu beiden Seiten von gotischen Gewändefiguren eingefasst – wenn man will eine Art Altar, hier eben noch als zweidimensionale Skizze. Auch Goethes Entwurf eines Denkmals für Luther zeigt, dass er dreidimensional konzipieren wollte. Beeinflusst haben seine Vorstellungen von Plastik und Skulpturen vor allem Adam Friedrich Oeser in Leipzig, er machte den jungen Goethe mit Gotthold Ephraim Lessings Abhandlung über die Laokoon-Gruppe vertraut, und Johann Joachim Winkelmanns „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst.“ Winckelmann habe „Goethes klassisches Selbstverständnis“ beeinflusst, schreibt Christa Lichtenstern (S. 27).

Wichtig als Station auf Goethes Weg, sich mit plastisch gestalteter Kunst auseinanderzusetzen, war ebenfalls der Antikensaal in Mannheim. Kunststudenten konnten dort etwa 40 Gipsabgüsse bedeutender Plastiken betrachten, auf drehbaren Sockeln montiert, um das Schattenspiel genau studieren zu können. Dazu ließ sich das Licht durch Vorhänge regulieren. „Solche Details spielten eine Rolle, zumal für Goethe, dem nichts über die eigene, sinnliche Anschauung ging“ (S. 27).

Tastsinn und Gefühl

Johann Gottfried Herder, mit dem er in Straßburg diskutierte, gab ihm weitere Anregungen. „Sein Grundansatz bestand darin, dass er die ‚Bildnerei‘ auf dem entwicklungsgeschichtlich primären Tastsinn, und das heißt für ihn auf dem ‚Gefühl‘ begründet sah“ (S. 32). Wie sehr Tastsinn und Kunst verwoben sein können und sich ergänzen, wurde auch deutlich, als Christa Lichtenstern die berühmten Verse aus Goethes Fünfter Römischer Elegie zitierte: „Oftmals hab’ ich auch schon in ihren Armen gedichtet / Und des Hexameters Maß, leise, mit fingernder Hand, / Ihr auf dem Rücken gezählt, sie athmet in lieblichem Schlummer / Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins tiefste die Brust.“

Von besonderer Bedeutung war für Goethe auch die Freundschaft mit Christian Daniel Rauch. Der habe sich mit Goethes ästhetischen Schriften vertraut gemacht und 1820 „in nur drei Tagen Goethes sogenannte A-tempo-Büste“ (S. 143) geschaffen. Als Christa Lichtenstern eine Kopie im Goethe-Museum als Teil der Sammlung Kippenberg entdeckte, war sie begeistert. „Dieses vielgerühmte Bildnis entspricht in seiner modulativen Durchgestaltung und seiner übergänglichen, geschmeidigen und zugleich klaren Einheit von Formen und Flächen dem, was Goethe in seiner Einleitung zu den ‚Proyläen‘ (1798) den Künstlern geraten hatte“ (S. 143). Ein „organisches Ganzes“ solle nach Goethes Verständnis der Künstler vollbringen und das sei Rauch mit dieser Büste gelungen.

Christian Daniel Rauch – Goethe. A Tempo-Büste, 1820 (Copyright: Staatliche Museen zu Berlin – Nationalgalerie / Fotograf Andres Kilger)

Goethe hat keine eigene Theorie formuliert, aber aus seinen Schriften und den von Eckermann erinnerten Gesprächen hat Christa Lichtenstern Überlegungen und deren Entstehung zusammengetragen, die ein geschlossenes und in sich stimmiges System erkennen lassen. Natürlich hat es im Lauf von Goethes langer Beschäftigung mit Kunst Änderungen erfahren, Akzente haben sich verschoben. Seine zentralen Aspekte haben sich aber offenbar in Goethes Augen bewährt. So kommt Lichtenstern in ihrer „Zusammenfassung“ zu dem Schluss: „Tastsinn und Gefühl, zu den primären Aufnahmeorganen erklärt, eröffneten Goethe eine sinnesphysiologische Wahrheit, die er bewusst als Erweiterung seiner Augensinnlichkeit begrüßte“ (S. 142).

Für die Zuhörer bildete der Vortrag ganz offenbar eine interessante Bereicherung ihres Goethe-Bildes, das Interesse ließ sich auch am Büchertisch feststellen und an der lebhaften Diskussion anschließend. Frau Lichtenstern ist gern bereit, ihren Vortrag auch in anderen Ortsvereinigungen mit den Bildern zu präsentieren. Ganz offenbar beschäftigte er das Publikum nachhaltig, denn in engagierten Gesprächen über das Thema wurden die Debatten fortgesetzt, die hinterher, wie üblich in Schloss Jägerhof, bei Brezeln und Wein stattfanden.

(c) Deutscher Kunstverlag

Christa Lichtenstern
„Ich bin ein Plastiker“. Goethes ungeschriebene Skulpturästhetik

Berlin und München 2022
215 Seiten
ISBN 973-422-98686-9

Preis: 38,00 €


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