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Ein nordfriesischer Faust? – die Jahresgabe der Goethe-Gesellschaft Kiel 2020

von Andreas Rumler

Blick vom Lorentzendamm auf den Rathausturm und das Opernhaus (Bildnachweis: Wikipedia/Arne List)

Goethes Interesse an Deutschlands Norden, damals noch in einzelne Länder unterteilt, war überschaubar, bezeichnete er doch Städte und Orte der Region als „Sumpf- und Wassernester“. (S. 2) Nachlesen lässt sich dieses Bonmot im Vorwort der von Malte und Ulrike Denkert herausgegebenen Jahresgabe 2020 der Goethe-Gesellschaft in Kiel: „Goethe-Impulse: Johann Wolfgang von Goethe im Spiegel einiger orddeutscher Dichter und Dichterinnen“. Natürlich hatte das tiefere als nur klimatische Gründe, auch über den „christlich-moralisch-ästhetischen Jammer […] an den Ufern der Ostsee“ ließ er sich an anderer Stelle spöttisch aus. (S. 2) Angesichts dieser mit fast hanseatisch-spröder Herzlichkeit formulierten Urteile scheint es eher mutig, diesen Bezügen genauer nachspüren zu wollen. Doch davon haben sich die Herausgeber in Kiel nicht abhalten lassen und einen gleichermaßen umfassenden wie auch ansprechenden Überblick gegeben. 

Zweierlei interessierte sie dabei. Neben theoretischen Untersuchungen auch der ganz persönliche Zugang, der einige Beiträger zu Goethe geführt hatte wie „Goethes Poesie“ von Jochen Missfeldt (S. 5 – 6) und „Mein Goethe“ von Therese Chromik (S. 7 – 31) oder „Mein Goethe“ von Bodo Heimann (S. 169 – 192) sowie letztlich auch die anrührende Erzählung „Songs of other times, die Harfe von Selma“ (S. 193 – 208) von Benedikta zu Stolberg über Goethes Korrespondenz mit ihrer Ururururur-Großtante Augusta zu Stolberg, „die 70-jährig und verwitwet Goethe aus Bordesholm noch einmal einen Brief schickte und sehnsüchtig auf Antwort wartete.“ (S. 4) Eingerahmt zwischen diesen eher privaten Annäherungen stehen vier Aufsätze, die Goethes Bedeutung für norddeutsche Autoren und die Bezüge zwischen ihren Texten und denen Goethes philologisch beleuchten.  

„Klassizist und Klassiker. Zum Verhältnis von Voß und Goethe“ (S. 33 – 57) hat Frank Baudach, der Leiter der Eutiner Landesbibliothek, seine Untersuchung überschrieben. War der jugendliche Voß zunächst noch begeistert vom Autor des „Götz“ und „Werther“ und dichtete selbst eine von steifem Pathos getragene Ode „An Göthe“, so kühlte das Verhältnis ab, als Goethe 1776 mit Klopstock brach, weil der sein Treiben in Weimar an der Seite des Herzogs kritisierte. Erstmals begegneten sie sich knapp 20 Jahre später, als Voß 1794 Wieland in Weimar besuchte. Goethe lag wohl daran, den Altphilologen Voß zur Unterstützung seiner Arbeit zu gewinnen. Beide Familien verkehrten gesellschaftlich mit einander, doch Voß verfolgte lieber eigene literarische Pläne. Statt des Vaters beriet nun der Sohn Heinrich Voß Goethe bei der Überarbeitung seiner Epen in Hexametern: „Reineke Fuchs“ und „Herrmann und Dorothea“. Durchaus freundschaftlich war der Kontakt zunächst, Goethe schätzte Voß vor allem als Übersetzer und Sachverständigen in metrischen Fragen, bis Vater Voß einem Ruf an die Universität Heidelberg folgte. 

Erle Bessert, Vorsitzender der Claudius-Gesellschaft, stellt in seinem Vortrag unter dem Titel „‚Herr D. Goethe ist ja freilich ein Originalgenie‘ – Matthias Claudius und Goethe“ (S. 59 – 101) gleich eingangs ernüchtert fest, dass Claudius „heute nur noch wenig präsent“, kaum „in schulischen Lehrplänen […] und Vorlesungsverzeichnissen“ (S. 61) zu finden sei, obwohl sein „Abendlied“ zu den traditionell bekanntesten und berühmtesten Gedichten in Anthologien zähle, denn Claudius habe nicht „mit innovativen Impulsen die literarische Kultur seiner Zeit beeinflusst.“ (S. 61) Nachweislich seien Goethe und Claudius sich einmal begegnet, einen Briefwechsel gebe es nicht und nur sporadisch hätten sie Werke des Anderen kommentiert. Aber diese wenigen Äußerungen seien „recht aufschlussreich, weil sich an den grundlegenden Unterschieden im Werk und in den Lebenshaltungen […] unterschiedliche kulturelle Zeitströmungen exemplarisch verfolgen“ ließen. (S. 61) Claudius schrieb für ein breiteres Publikum verständlich als Redakteur mehrerer Zeitschriften in frühen Formen des Feuilletons mit unterschiedlichen Pseudonymen und nahm damit Kurt Tucholskys „Rollenprosa“ mit ausdifferenzierten Charakteren vorweg. Volkstümliche Töne schlägt er an, durchaus auch mit kritischen Akzenten, etwa über die Ausbeutung von Sklaven. Goethe nahm ihn eher aus der Distanz wahr als einen Narren, „der voller Einfaltsprätensionen steckt“ (S. 98). Überdauert hat von Claudius das „Abendlied“ übrigens auch als (fast) ganz gegenwärtiger Text – Joan Baez sang es auf ihren Deutschlandtourneen.  

Offenbar war es zu Friedrich Hebbels Zeit, als der noch in Wesselburen lebte, nicht leicht, sich dort geeignete Literatur zu beschaffen. Denn Hebbel klagt über die „Einöde eines Dithmarsischen Marktfleckens, den die Cultur nur in Maculatur-Gestalt berührt. […] Jedes Buch, das der Zufall dahin verschlägt, ist ein Ereigniß.“ (S. 107) Das zitiert Hargen Thomsen, der Sekretär der Hebbel-Gesellschaft. Bekannt sei es zwar gewesen, „daß der Hauptpastor im Besitz des Goethe’schen ‚Faust‘ sey.“ (S. 108) Aber es scheint unmöglich, das Buch auszuleihen. Respekt und Hochachtung vor der Autoritätsperson verbieten es. Einmal gelingt es Hebbel doch, dafür verhilft er einem Freund zu einem amourösen Abenteuer und kann endlich den „Ersten Teil“ lesen – ganz rasch, in sehr kurzer Zeit freilich, bevor der Herr Pastor zurück ist, der über diese inoffizielle Ausleihe nichts erfahren darf … Das Buch habe sich wie „Eine Feuerkohle in der Tasche“ angefühlt: Dieses Zitat stellt Thomsen dem Titel seines Vortrags über „Friedrich Hebbels Goethe-Lektüren“ voran. (S. 103 – 127) Natürlich kennt der aufstrebende Dichter Hebbel den Namen Goethe, kann sich aber lange keine Ausgabe leisten und deshalb kein eigenes Urteil bilden. Auch stört ihn, dass Goethe sich kritisch über Kollegen äußert, die Hebbel besonders schätzt: über Uhland und Kleist. Als er 1842 endlich eine eigene Ausgabe erwerben kann, begeistert ihn „Dichtung und Wahrheit“ als ein „unerreichbares Meisterstück“ und er beschließt für sich, in der eigenen Autobiografie „nur das Liebliche, Schöne, das Beschwichtigende und Ausgleichende“ hervorzuheben. (S. 116) Das fällt freilich nicht leicht, wenn man lange in äußerst ärmlichen Verhältnissen zu leben gezwungen war. Ausführlich beschäftigt er sich mit Goethe erst, als er zu dessen 100. Geburtstag 1849 in Wien die Feier organisiert und selbst als Laudator auftritt: „Was Goethes Geist errang“, sei „Ein Eigenthum der ganzen Welt, nicht bloß für uns ein Segen.“ (S. 119) Allerdings hielt diese öffentlich geäußerte Anerkennung sich im privaten Kreis eher in Grenzen, Goethes Spätwerk schätzte Hebbel nicht besonders: „Den alten Goethe hätte man nach den Wahlverwandtschaften hängen sollen!“ (S. 125) Insgesamt kommt Thomsen zu dem Schluss, dass „Hebbel letzten Endes Goethe nicht begreifen konnte“, zwar lobe er den „Weimarer Klassiker“, aber zumeist in „allgemein gehaltenen Formulierungen.“ (S. 123)        

Parallelen zwischen Theodor Storms „Schimmelreiter“ und Goethes spätem „Hauptgeschäft“ erläutert Christian Neumann: „Hauke Haien – ein nordfriesischer Faust?“ (S. 129 – 167) Dabei beruft er sich auf Volker Neuhaus, der befand, Faust sei ein „Hauke Haien im großen Stil, dem es um Provinzen, nicht um Polder geht.“ (S. 129) Vergleiche dieser Art haben stets etwas Mephistophelisches, aber auch Jost Hermand oder Uwe Pörksen stellten sie an, wie Neumann ausführt. Bis hin zu Bismarck hatten Analogien dieser Art im späten 19. Jahrhundert Konjunktur und besonders nach 1933, als der ‚eiserne Reichskanzler‘, Faust und Hauke Haien als „Gründer, Tatmenschen, Übermenschen“ (S. 130) verherrlicht wurden. Außerdem vergleicht Neumann die geplanten Deichbau-Projekte von Goethes und Storms Helden und deren soziale wie auch politische Dimensionen. Vor allem betrachtet er beide psychologisch. Sie seien „narzisstische Persönlichkeiten“ (S. 140) und beide eine, „dass ihre Motive persönlicher Natur sind und es ihnen nicht primär darum geht, notleidenden oder gefährdeten Menschen zu helfen.“ (S. 141) Beide Figuren seien „von Omnipotenzansprüchen geleitet […]. Deichbau und Landgewinnung sind ihnen ein Mittel, ihr Ego zu erweitern.“ (S. 142) Hat Fausts Gretchen bereits seit Jahrzehnten bekanntlich die erotischen Fantasien von Schülern beflügelt, so stellt Neumann diesen Spekulationen jetzt eher deprimierende Überlegungen zum Familienleben Haukes und seiner Frau Elke entgegen: So sei, „was die Erfüllung einer Ehe ausmacht, nämlich ein glückliches Sexualleben, äußerst unterentwickelt.“ (S. 154) Solche Befunde liest man über literarische Gestalten nicht oft. Unterschiede in den beiden bedeutenden Alterswerken sieht er freilich auch und zwar unter anderem in Bezug auf die Hilfskräfte, die beide Protagonisten zu mobilisieren vermögen: „Hauke dagegen ist keinen Bund mit dem Teufel eingegangen, sondern mit seiner klugen Frau Elke, die ihn bedingungslos liebt.“ (S. 157)    

Respekt und Hochachtung vor Goethes Erfolg und Leistungen prägen die Sicht der hier vorgestellten norddeutschen Geistesgrößen, von Johann Heinrich Voß, Matthias Claudius, Friedrich Hebbel oder Theodor Storm auf den Weimarer Dichterfürsten. Freilich schwingt zumeist auch ein wenig Rivalität mit, gepaart mit Neid auf einen Kollegen, der privilegierter aufwachsen durfte als die meisten Autoren seiner Zeit und dem es gelungen war, sich dank der Gunst seines Herzogs selbst adeln zu lassen, in hochrangigen Funktionen politischen Einfluss gewonnen hatte und Zeit seines Lebens in Weimar fürstlich residieren konnte. Auch seine weit geknüpften, teils übernationalen Kontakte boten ihm Möglichkeiten, von denen seine Kollegen nur träumen konnten.Mit diesem Band ist der Kieler Ortsvereinigung der Goethe-Gesellschaft wieder eine schöne Erinnerung an vergangene Programm-Highlights gelungen, wie auch schon mit der Jahresgabe „Goethe im 20. Jahrhundert“ über Bertolt Brecht, Peter Hacks, Karl Kraus und Gerhart Hauptmann von 2016. Nach ihrer Satzung will die Goethe-Gesellschaft in Kiel „Kenntnisse über Goethes Leben und Werk vermitteln oder auffrischen; über den neuesten Stand der Goethe-Forschung informieren; wichtige Bereiche der Literatur, Kunst und Geisteswissenschaft in Geschichte und Gegenwart durch Vorträge und Lesungen erschließen.“ Auch die ganz subjektiven Begegnungen mit Goethe, sie rahmen die wissenschaftlichen Beiträge ein, belegen, dass die Annäherung an einen vor knapp 200 Jahren verstorbenen Autor relevante Anregungen für die Gegenwart geben kann. Dass dies offenbar gelungen ist, lässt sich im neuen Band der Jahresgabe wieder nachlesen.

Hrsg. Von Malte Denkert und Ulrike Denkert: 
Goethe-Impulse: Johann Wolfgang von Goethe im Spiegel einiger Norddeutscher Dichter und Dichterinnen 

Schmidt & Klaunig, Kiel 2020
212 Seiten

ISBN: 978-3-88312-120-8

Preis: 13,20 € (incl. Versand)

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 1/2021.


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