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Aus dem Leben der Goethe-Gesellschaft

Vorstandsmitglieder im Portrait: Prof. Dr. Marisa Siguan


Als Mitglied im Vorstand stellen wir Frau Prof. Dr. Marisa Siguan, Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität von Barcelona, in Frage und Antwort vor.

Wie kamen Sie zu Goethe und zur Goethe-Gesellschaft?

Ich habe schon als Mädchen leidenschaftlich gern gelesen, so ungefähr alles, was mir unter die Augen kam. Und im Gymnasium in Spanien gab es damals ein wunderbares Fach, das „Universalliteratur“ hieß. Ich habe Goethes „Werther“ gelesen und war sehr fasziniert davon. Dann kam das Germanistikstudium und ich konnte auf meiner Faszination aufbauen. Zur Goethe-Gesellschaft bin ich über Prof. Dr. Werner Keller gekommen, der mich wunderbar eingeführt hat und zum Aufbau einer Goethe-Gesellschaft in Spanien ermutigt hat.

Ist Goethe noch aktuell oder eher ein Gegenstand für die Wissenschaft und das Museum?

Die Probleme, die seine Werke ansprechen, können sehr aktuell sein. Im „Faust II“ zum Beispiel findet man sehr viel davon, von der Beschleunigung bis zur Zweideutigkeit der modernen Naturbewältigung, und sein Konzept der Weltliteratur ist in unserer Zeit besonders aktuell geworden. Sein Internationalismus wäre ein weiterer Aspekt, von dem man heute gar nicht genug haben kann, und überhaupt seine Neugierde für die Welt, die die Basis für sein wissenschaftliches Denken ist.

Goethe war Dichter, Wissenschaftler und Politiker – ist eine solche Vielseitigkeit heute denkbar oder gar wünschenswert?

Ich würde mir zumindest ein bisschen davon bei Politikern schon wünschen… Aber die moderne Spezialisierung in allen Bereichen macht sie ziemlich unerreichbar.

Welche Eigenschaften Goethes sagen Ihnen am meisten zu?

Seine Neugierde auf die Welt, seine Experimentierlust. Ich denke, er experimentiert in seinen Werken mit Lösungen, die er dann wieder in weiteren Werken in Frage stellt. Deshalb kann man ihn immer wieder neu lesen, mit Fragen an ihn herangehen, die man neu beantworten kann.

Welche Werke Goethes stehen Ihnen besonders nahe?

Das ist schwer zu sagen, denn es gibt so Vieles in seinen Werken, was mir nahesteht. Auf Anhieb kann ich vielleicht als Erstes „Die Wahlverwandtschaften“ nennen, die Art, wie er darin die Frage nach den Möglichkeiten stellt, persönliches Glück und soziale Rolle zu vereinbaren. Aber ich schätze weiterhin den „Werther“, den ich übersetzt habe, von seiner Fragestellung aus, die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, die ich auch übersetzt habe, weil sie wieder Fragen aufreißen, die in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ angeblich gelöst werden und das Erzählen und seine Funktionen thematisieren, die Modernität eines Faust, der in seinen Lebensprojekten nie zufriedengestellt wird und weiter experimentieren muss, oder Frauenfiguren in seinen Romanen, wie zum Beispiel Hersilie, die mit Ironie die Theorien ihres Onkels in der Pädagogischen Provinz durchleuchtet, oder Philine, die sagen kann: „Und wenn ich dich lieb habe, was geht es dich an?“, und so Vieles noch…

Gibt es Autoren, die Sie in gleicher Weise beeindrucken?

Cervantes wäre einer von ihnen, und auch ihm würde ich absolute Aktualität bestätigen. Den „Quijote“ wieder zu lesen ist eine Freude!

Welche Funktionen kann oder soll die Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart heute haben?

Ich denke, man soll in ihr Fragen gestellt sehen, die weiterhin wichtig für das Leben sind, Antworten finden, weitere Horizonte ahnen, durch Unbekanntes fasziniert werden, Sprache erleben, das Erzählen genießen oder die Laute und Musik der Sprache… Es gibt zum Glück weiterhin Leserinnen und Leser, und die Menschheit wird weiterhin erzählen müssen und an der Sprache Freude finden, auch wenn in anderen Medien und Technologien ebenfalls erzählt oder Lyrik gemacht wird. 

Weimar ist Sitz der weltweit tätigen Goethe-Gesellschaft; was verbindet Sie mit dieser Stadt?

Ich bin über Goethe und die Goethe-Gesellschaft nach Weimar gekommen, zum ersten Mal 1999, und so sind Weimar und Goethe und die Faszination für seine Welt für mich für immer verbunden. Viel später bin ich über meine Forschungen zu Literatur und Erinnerung an Gewalt nach Buchenwald gekommen, und Weimar ist zu einem Ort von einer extremen historischen Dichte und Janusköpfigkeit für mich geworden, ein Ort, der mir persönlich sehr nahesteht und nahegeht. Seit 1999 komme ich zu den Hauptversammlungen unserer Goethe-Gesellschaft. Ich kann mir gar nicht vorstellen, nicht periodisch nach Weimar zu kommen, ich denke, ich brauche es für mein intellektuelles Gleichgewicht! 

Wie möchten Sie die Goethe-Gesellschaft mitgestalten?Als Vorstandsmitglied fällt mir die Aufrechterhaltung der internationalen Kontakte mit Westeuropa und den USA zu, ich sehe meine Aufgabe im Knüpfen von Netzwerken im Sinne Goethes in diesem Raum und freue mich über die Möglichkeiten, die die Foren „Goethe weltweit“ in den Hauptversammlungen dafür bieten.

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 4/2020.


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