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Ein Geburtstagsfest für Goethe
Niemand unter unseren Lesern muss sich verwundert die Augen reiben und fragen: Goethes Geburtstag liegt doch einige Zeit zurück, warum diese Überschrift am Jahresende? Natürlich hat unsere Gesellschaft Goethes Geburtstag nicht eigenmächtig korrigieren wollen, doch in einem weiteren Sinne hat die Überschrift ihre Richtigkeit. Im Arkadensaal des Freien Deutschen Hochstifts zu Frankfurt am Main fand sich am 18. November eine festlich gestimmte Gemeinschaft ein, um den tags zuvor kalendarisch fixierten 65. Geburtstag der Hausherrin zu begehen. Wieder lag ein Lustrum, wie die Lateiner ein Jahrfünft benannten, hinter ihr, ein Lustrum, wie alle voraufgegangenen gekennzeichnet durch immense geistige Tatkraft, durch persönliche Ausstrahlung als Hochschullehrerin wie als Direktorin des Hochstifts und last but not least – als ehemalige Vizepräsidentin und jetziges Vorstandsmitglied unserer Gesellschaft – Eigenschaften, die das bezeugen, was Goethe einmal „attrativa“ nannte –, und daraus resultierendes hohes öffentliches Ansehen. Davon legten allein in diesem Jahr die Verleihung der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt und die Auszeichnung als Hochschullehrerin des Jahres Zeugnis ab.
Gerahmt wurde die Feier durch den exzellenten Vortrag von „Ganymed“ und „Der Musensohn“ in der Vertonung von Schubert – eine Huldigung auch an den musikalischen Geist des Hauses, dem sein treues, zahlreiches Publikum Liederabende von hoher Qualität verdankt. „Ganymed“ stimmte ein auf den Ernst der Stunde. Der Vorsitzende des Verwaltungsausschusses, Jurist seines Zeichens, sprach eine kluge Laudatio auf Anne Bohnenkamp, die das Frankfurter Goethe-Ensemble seit 2003 leitet und in die Annalen des Hauses vor allem als Schöpferin des Deutschen Romantik-Museums eingehen wird. Alle, die das Wort ergriffen, haben diese Leistung, in der sich Inspiration, profundes Wissen und zupackende, weitblickende Tätigkeit vereinigten, als beispielgebend gewürdigt. Zu einem zweistimmigen, zuweilen auch dreistimmigem Lob fanden sich dann wissenschaftliche (und allesamt professorale) Weggefährten der Jubilarin zusammen: Anke Bosse aus Graz, Anne Bohnenkamp wissenschaftlich und menschlich seit Jahrzehnten verbunden, Wolfgang Bunzel, wissenschaftlicher Sachwalter der deutschen Romantik im Hochstift, und Fotis Jannidis aus Würzburg, wissenschaftlicher Partner von Anne Bohnenkamp bei der digitalen Edition des „Faust“, die der Rezeption von Goethes Dichtung eine neue Dimension erschlossen hat. So schön und treffend die Reden der Laudatoren waren, stärker noch hat mich das berührt, was Anne Bohnenkamp in ihren Dankesworten aussprach. Aus meiner Sicht gab sich darin das Wesen ihrer Persönlichkeit zu erkennen, prägnante Klugheit im Wissenschaftlichen wie im praktischen Tagesgeschäft, problembewusste Offenheit vielfältigen kulturellen Strömungen gegenüber, wie sie sich auch in den Ausstellungskonzeptionen des Hauses wiederfindet, warmherzige Nähe zu den Menschen. Wie sehr sie gerade mit der zuletzt genannten Qualität auch ihre Mitarbeiter motivieren konnte, bewies der lebhafte, geradezu stürmisch bewegte Applaus, mit dem die Anwesenden ihre Dankesrede bedachten, zumal sie versichern konnte, dem Hochstift weiterhin all ihre Kräfte widmen zu können. Goethes „Musensohn“ leitete über zunächst zu einer kleinen Gratulationscour und dann zu einem heiter-geselligen Abend in den Räumen des Hochstifts, bei dem nicht immer, um Goethe einmal zu zitieren, „vernünftig gesprochen“ werden musste.
Einen Punkt habe ich mir noch aufgehoben. Es gehört zu den Charakteristika der Geisteswissenschaften, dass kalendarische Jubiläen Anlass bieten, Freunde und Weggefährten der zu Ehrenden um Beiträge zu einer Festschrift zu bitten. Es war also ein durchaus gelenkter Zufall, dass die drei öffentlich lobsprechenden Wissenschaftler zugleich Herausgeber der bei Wallstein erschienenen schöngestalteten Festschrift sind, die unter dem Titel „Zwischen Weltliteratur und Universalpoesie. Neue Perspektiven auf Goethe und die Romantik“ zur Lektüre einlädt. Im Titel spiegelt sich schon das Forschungsspektrum von Anne Bohnenkamp wider; gleichwohl bedarf er ein wenig der Erläuterung. Weltliteratur steht hier für eine Forschungsrichtung, zu der die Jubilarin seit Jahrzehnten wegweisende Beiträge geleistet hat: Dazu zählen Einzelstudien, auch zur benachbarten Übersetzungswissenschaft, zählt auch die Arbeit an der Edition von Goethes Zeitschrift „Ueber Kunst und Alterthum“, einem weltliterarischen Kompendium sui generis, in der Frankfurter Ausgabe, nicht zu vergessen Abhandlungen zum „West-östlichen Divan“, entsprungen auch der Mitwirkung an der maßstabsetzenden Edition von Hendrik Birus. Universalpoesie: Kernwort für das vielleicht zentrale poetologische Konzept der Frühromantik aus der Feder von Friedrich Schlegel, wie es Gerhard Kurz, Wort für Wort interpretierend, in der Festschrift nachzeichnet.

Der Untertitel des Buches markiert eine doppelte Perspektive, zunächst die auf Goethe, sodann auf die deutsche Frühromantik, wie sie bei Kurz, bei Raphael Stübe und Ulrike Landfester zur Anwendung gelangt, während Goethes Verhältnis zur Romantik oder, vor allem von Stefan Matuschek kräftig formuliert: Goethe als Repräsentant der europäischen Romantik vor allem von Stübe in den Blick genommen wird. Goethe bildet in vielfältiger Weise den Schwerpunkt. Anke Bosse, die das handschriftliche Material zum „Divan“ in einer großen Untersuchung souverän erschlossen hat, zeichnet den Weg nach, den Goethe vom „Divan“ als poetischem Zeugnis von Weltliteratur bis zu deren theoretischer Fixierung zurückgelegt hat. Der Arbeit am „Propyläen“-Projekt des Goethe- und Schiller-Archivs, das Anne Bohnenkamp wissenschaftlich begleitet hat, sind philologische Untersuchungen von Silke Henke zu Goethes Gedichtsammlung von 1789, Gerrit Brüning (gemeinsam mit Dietmar Pravida) zu Ernst Grumachs „Divan“-Edition und Elke Richter zur „Materialität und Thematik“ von Goethes Briefen an Frau von Stein entsprungen, während Rüdiger Nutt-Kofoth sich den beiden Fassungen von „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ zuwendet und damit erneut die Notwendigkeit einer historisch-kritischen Edition dieses Romans vor Augen führt. Doch auch das Fenster der Interpretation öffnet sich. Nicholas Boyle, dessen dritten Band wir sehnlich erwarten, spürt dem Einfluss nach, den Wezels „Kakerlak“ auf Goethes „Faust“ gehabt haben könnte, Christoph Perels, Anne Bohnenkamps Vorgänger im Hochstift, widmet sich der Theokrit-Rezeption im Umfeld des jungen Goethe, Heinrich Detering weiß der Kerkerszene in „Faust I“ neue, überzeugende Aspekte abzugewinnen, Hendrik Birus stellt das „Divan“-Gedicht „Höheres und Höchstes“ in einen weiten religionshistorischen Kontext, sein Schüler Sebastian Donat ergründet Goethes problematisches Verhältnis zur Parodie.
Festschriften zu komponieren ist eine eigene Kunst, sie erfordert ebenso Fingerspitzengefühl wie Vertrautheit mit dem wissenschaftlichen Profil der zu Ehrenden. Wenn dann die befragten Autoren – wie in diesem Falle anzunehmen – bereitwillig auf die Intentionen der Herausgeber eingehen, kann ein Buch entstehen, das den Herausgebern zur Ehre, der Geehrten zur Freude gereicht. Ein solcher Band weist mannigfache farbige Facetten auf – insgeheim mag die Herausgeber auch Goethes Theaterdirektor geleitet haben: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“. Den potenziellen Lesern sei – mit Goethe – zugerufen: „Erbaut euch und ergetzt die Augen.“




