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Norm oder Epoche? – Stefan Matuschek sprach in Aachen über Klassik und Romantik

von Andreas Rumler

„Deutsche Klassik als Teil der europäischen Romantik“ hatte Professor Dr. Stefan Matuschek, der Präsident der internationalen Weimarer Goethe-Gesellschaft, seinen Vortrag überschrieben, zu dem ihn Professor Dr. Helmut Schanze nach Aachen in die Ortsvereinigung eingeladen hatte. Es ging also darum, die traditionelle Sichtweise der deutschen Germanistik im etwas weiteren Rahmen zu beleuchten, gewissermaßen das „Weltkind“ Goethe inmitten der „Prophete“ nicht nur politisch „rechts“ oder „links“ zu verorten, sondern innerhalb des literarischen Dialogs der damaligen Welt und der Jahrzehnte nach Goethes Tod, in denen die deutsche Germanistik beschlossen hatte, den Weltbürger sowie global interessierten Wissenschaftler und Dichter Goethe als kulturellen Repräsentanten des siegreichen deutschen Kaiserreichs von 1870/71 zu vereinnahmen und seine Bedeutung auf diese Funktion zurechtzustutzen.

Stefan Matuschek warnte vor einer unkritischen Verwendung des Begriffs der Klassik, da er nur Verwirrung stifte. Deshalb sei es besser, auf ihn zu verzichten. Die europäische Romantik und ihre Vertreter begriffen Goethe als führenden Romantiker seiner Zeit, nicht als Klassiker. Hinzu käme, dass hierzulande bekannte Dichter aus dem Kreis der Romantiker wie Novalis oder Schlegel im Ausland kaum gelesen wurden oder werden. Der Begriff der Romantik wurde sehr unterschiedlich verwendet, häufig als eine Art „Kampfbegriff“ gegen die Klassik. Und man dürfe auch nicht übersehen, dass die Romantik keine Abkehr von der Aufklärung bedeute, sondern auf deren Basis entstanden sei.

An Hand konkreter Zitate regte Stefan Matuschek an, tradierte Einteilungen der literarischen Epochen neu zu überdenken. Goethes und Schillers Werke seien die wichtigsten deutschen Beiträge zur europäischen Romantik. Beide, Goethe und Schiller, würden außerhalb Deutschlands als die bekanntesten deutschen Romantiker betrachtet. Als Beispiele für romantische Bestandteile nannte er die Abwendung von der akademischen Regelpoetik, wie sie Gottsched verkörpert habe und erinnerte an die Schilderung in „Dichtung und Wahrheit“. Dort berichtet Goethe, wie er als Student den berühmten Gelehrten aufsucht und dieser als Karikatur seiner selbst erscheint: noch nicht korrekt kostümiert. Gottsched ohrfeigt den Diener „mit seiner rechten Tatze“ – der Bediente hatte seinem Herrn zu spät die Perücke gereicht. Hinzu komme die Hinwendung zu populären Formen wie etwa zur Prosa des Romans oder zur Ballade, auch zum Volkslied. Das Fantastische diene der Psychologisierung des Wunderbaren in ihrem Texten. Sie böten eine Modernisierung und psychologische Neudeutung alter Glaubensfiguren. Der Teufel Mephistopheles oder der Erlkönig erscheinen in ihrer Transparenz als Kippfigur. Hinter dem tradierten Motiv scheine eine neue Bedeutung durch.

Den ersten Teil des „Faust“ versteht Stefan Matuschek als ein Hauptwerk der europäischen Romantik. Es handelt sich um den größten internationalen Erfolg eines original deutschsprachigen Dramas. Traditionell sei Faust eine christliche Warnfigur. Bei Goethe wird er aber zur ambivalenten Reflexionsfigur des modernen absoluten Individualismus. Der Teufel in Gestalt von Mephisto wird psychologisiert zum bösen Zyniker und damit eigentlich auch seines gefährlichen Charakters oder der Bedeutung als personifizierter Schrecken beraubt. Raphaels Worten „Die Sonne tönt in alter Weise …“ wird grotesk knapp 100 Verse später Mephistos Ironie entgegen gesetzt: „Von Zeit zu Zeit seh‘ ich den Alten gern,/ Und hüte mich, mit ihm zu brechen“. Die Hexen der „Walpurgisnacht“ treten auf als moderne Imagination des Sexualtriebs. Weit entfernt von klassisch-vornehmer Zurückhaltung seien einige Pointen, Stefan Matuschek erinnerten sie an Beispiele von „Herrenwitz“. Auch karikiert Goethe im „Faust“ Spießermoral, wenn saturierte Bürger am offenen Fenster ihr „Gläschen“ genießen und dabei über „Krieg und Kriegsgeschrei“ räsonieren „weit in der Türkei“: in sicherer Entfernung.

Goethes bekannte Balladen oder Romanzen sind volkstümliche, lyrisch-epische Verserzählungen. So zum Beispiel der „Erlkönig“, in dem ein Elementargeist als Verkörperung sexueller Gewalt gegen Kinder auftritt. Oder der „Zauberlehrling“. Zauber erscheint hier als Exempel einer leichtfertig provozierten Unbeherrschbarkeit. In der „Braut von Korinth“ begegnen sich die von den Eltern einander versprochenen Kinder, dabei tritt die Tochter nach ihrem Tod als Vampir auf, wird zur Verkörperung der von christlicher Frömmigkeit beschädigten sinnlichen Natur des Menschen.

Stefan Matuschek regt an, „Klassik“ nicht als epochale Zuschreibung zu verwenden, sondern als einen Normbegriff, als etwas zu begreifen, das als dauerhaft mustergültig anerkannt werde. So sei er sinnvoll auf einzelne Werke und Autoren anwendbar und eben nicht auf Epochen. Epochal gehören Goethe und Schiller zur Spätaufklärung und auch zur Romantik, sie sind als Aufklärer und Romantiker die deutschen Klassiker. Und er nannte als Beispiele für europäische Klassiker die Italiener Dante, Petrarca und Boccaccio, die Spanier Cervantes und Lope de Vega, den britischen Klassiker Shakespeare, für Frankreich Molière und Jean de La Fontaine.

Frei, recht flott und amüsant trug Stefan Matuschek seinen Parforce-Ritt über Fragen von Sinn und Wert epochaler Zuordnung des vermeintlichen Klassiker-Duos Goethe und Schiller vor. Die lebhafte Diskussion belegte, dass er seinen Zuhörern offensichtlich interessante Anregungen gegeben hatte, die Dichter-Freunde als Romantiker zu begreifen. Da traf es sich gut, dass man die angeregte Debatte in einem nahegelegenen Restaurant fortsetzen konnte. Professor Schanze hatte eines mit vorzüglicher griechischer Küche gewählt, so kam denn auch noch die antike Klassik in Gestalt zahlreicher größerer Gips-Abgüsse von Statuen zu ihrem Recht.


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