Blog
Ältester Literaturverein der Stadt. Vor hundert Jahren wurde die Leipziger Goethe-Gesellschaft gegründet
Im geschichtsträchtigen Arabischen Coffe Baum versammelten sich am späten Abend des Dezember 1925 einige honorige Herren, darunter der Germanistikprofessor Hermann August Korff (1882–1963), und beschlossen, eine Goethe-Gesellschaft als Ortsvereinigung der Weimarer Muttergesellschaft zu gründen. Leipzigs Goethe-Gesellschaft ist heute die älteste noch bestehende literarische Vereinigung der Stadt. Ein Schillerverein existierte damals zwar bereits, aber nach längerer Pause gibt es ihn erst seit 2018 wieder. In jüngerer Zeit sind weitere autorzentrierte Gesellschaften gegründet worden: für Theodor Fontane, Fritz Rudolf Fries, Wolfgang Hilbig, Andreas Reimann und Lene Voigt, sodass eine erfreulich große Runde von Vereinsgeschwistern das literarische Leben Leipzigs bereichert. Was aber bringt Menschen dazu, sich zu einem Verein zusammenzuschließen, der sich dem Andenken eines einzelnen Schriftstellers oder einer Schriftstellerin widmet? Und wovon hängt es ab, wer auf diese Weise gewürdigt und gepflegt wird?
Solche Fragen stellen sich bei Johann Wolfgang Goethe wohl kaum, denn er ist (gemeinsam mit Friedrich Schiller) der bedeutendste Klassiker der deutschen Literatur, der „Olympier“ schlechthin. Stand bis 1871 Schiller im Vordergrund – in politisch unfreien Zeiten konnte man die deutsche Einheit oder Grundrechte wie die Meinungsfreiheit mit Schiller-Zitaten fordern –, so gewann im Kaiserreich zunehmend Goethe an Bedeutung. Damals avancierten Schriftsteller in vielen europäischen Ländern zu »Nationaldichtern«. Dahinter standen Bedürfnisse der modernen Nationalstaaten, die sich im 19. Jahrhundert herausbildeten und nach Identität und kulturellen Leitfiguren suchten. In Deutschland bot sich Goethe dafür an, denn er ragte in mancherlei Hinsicht heraus: als universaler Geist, als Verfasser komplexer literarischer Werke aller
Genres, als Minister, der in die Regierungsgeschäfte eines Fürstenhofs eingebunden war, und nicht zuletzt als vielschichtige Persönlichkeit mit einem langen Leben. An einem bekannten Leipziger Gebäude ist seine nationalkulturelle Bedeutung verewigt: Über dem Eingang der 1915 eingeweihten Deutschen Bücherei sind drei Porträtbüsten zu sehen, nämlich Johannes Gutenberg als Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern zwischen Fürst Otto von Bismarck als Reichsgründer links und Johann Wolfgang Goethe als Nationaldichter rechts.
Bereits 1901 gründete der ambitionierte Otto Siedel, der als Rezitator und Vortragsredner auftrat, in Leipzig eine Goethe-Gesellschaft, die allerdings nichts mit Weimar zu tun hatte. Er bezweckte, durch „litterarische Abende das Interesse für Litteratur zu wecken und zu pflegen“, und arrangierte zwischen Goethes Geburtstag im August und seinem Sterbetag im März für einen moderaten, monatlich oder jährlich zu zahlenden Beitrag ein Programm mit Vorträgen, literarisch-musikalischen Veranstaltungen und besonderen Feiern. Dafür gewann Siedel sowohl Universitätsprofessoren als auch Künstler, wie den Opernsänger Otto Schelper oder die Schriftstellerin Elsa Asenijeff. Goethe war zwar der Schwerpunkt, aber neben ihm fanden viele andere Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts Platz. 1915 stellte Siedel die Aktivitäten ein, seinen Angaben zufolge aufgrund des Kriegsausbruchs.
Zehn Jahre später wurde die „echte“ Leipziger Goethe-Gesellschaft gegründet, die Ortsvereinigung
der Weimarer Goethe-Gesellschaft. Nachdem Goethes letzter Enkel 1885 gestorben war und den Goethe-Nachlass der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach vermacht hatte, initiierte diese sowohl das Goethe-Archiv als auch die Goethe-Gesellschaft. Deren erster Präsident war Eduard von Simson, Präsident des Leipziger Reichsgerichts, der Goethe noch persönlich kennengelernt hatte. Ab 1917 bildeten sich Ortsvereinigungen, denen vor allem daran gelegen war, Goethes Werk einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Leipzig war als Goethes Studienort für eine solche Gründung prädestiniert, zudem gab es hier mit Auerbachs Keller einen zweiten starken Bezug. Das Lokal verdankt seine überregionale Bekanntheit zum nicht geringen Teil dem Dichter, der es als Schauplatz einer derbkomischen Szene in den ersten Teil der Faust-Tragödie eingebaut hatte.
Die Leipziger Goethe-Gesellschaft kam jedoch nicht so recht in Schwung, schon 1932 schlummerten ihre Aktivitäten ein. Vielleicht war Korff an der Spitze nicht der richtige Mann dafür, den „Dichterfürsten“ zu popularisieren, aber auch andere Faktoren mögen eine Rolle gespielt haben. Schillers Anhängern erging es ähnlich. Germanistikprofessor Georg Witkowski (1863 bis 1939), der in den 1910er und 1920er Jahren frischen Wind in den müde gewordenen Schillerverein gebracht hatte, diagnostizierte für die 1930er Jahre ein nachlassendes Interesse an der klassischen Literaturepoche.
Das änderte sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Im Februar 1940 wurde die Goethe-Gesellschaft quasi wiederbelebt; treibende Kräfte waren der Oberlehrer Paul Schlager, der Schriftsteller Valerian Tornius und der Schriftsteller und Verleger Julius Zeitler. Man veranstaltete neben öffentlichen Einzelvorträgen auch Vortragsreihen nur für die Mitglieder, beispielsweise zum Thema „Goethe und Leipzig“ oder zum „Faust“. Die Zahl der Mitglieder schnellte in die Höhe, 1944 waren es rund tausendachthundert. Soweit es sich nachvollziehen läßt, gab es nur wenige Zugeständnisse an den braunen Ungeist; vielmehr dürfte es gerade der Kontrast des Welt- und Menschenbilds der Weimarer Klassik zur NS-Ideologie gewesen sein, der die Goethe-Gesellschaft attraktiv machte. Zwar hatte es bereits vor 1933 Versuche gegeben, Goethe völkisch zu vereinnahmen und zum Genius einer germanischen Weltanschauung aufzubauen, ebenso aber auch die gegenteilige Position, die Goethe als zu weltbürgerlich, zu sehr auf die Antike fixiert und zu individualistisch kritisierte. Insofern bot die Leipziger Goethe-Gesellschaft ein Refugium und leistete einen Beitrag dazu, universale humanistische Werte zu tradieren.
Eine erstaunliche Publikation aus der NS-Zeit ist Valerian Tornius’ Buch „Leipzig im Leben Goethes“. In dem einen oder anderen Leipziger Bücherregal mag es in der blau eingebundenen Ausgabe des Insel-Verlags von 1965 stehen, erschienen ist es aber bereits 1943. Ursprünglich wollte das Leipziger Verkehrsamt eine „nette“, offensichtlich nichtideologische Gabe für Gäste der Stadt haben, eine Art Goethesprüche-Sammlung über das gern zitierte „Klein-Paris“. Aus dieser Idee entstand schließlich das Buch, das der Oberbürgermeister an Institutionen und Einzelpersonen verschenkte. Tornius, der aus dem Baltikum stammte, in Leipzig studiert, über Goethe promoviert und sich als Autor kulturgeschichtlicher Schriften und historischer Romane profiliert hatte, erschien fachlich geeignet und politisch unauffällig. Er lieferte einen Text ohne ideologische Einfärbung ab, den der eigens konsultierte Goethe-Sammler und Verleger Anton Kippenberg für gut befand und der ohne Eingriffe akzeptiert wurde.
Da in der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise DDR kein neues Vereinsrecht installiert wurde, konnte die Leipziger Goethe-Gesellschaft ihre Arbeit nur fortsetzen, indem sie sich den neuen Rahmenbedingungen anpasste. 1946 gelang es, auch mit Hilfe von Oberbürgermeister Erich Zeigner, einen Goethe-Arbeitskreis als zwanglose Vereinigung unter der Obhut des städtischen Volksbildungsamts zu gründen. Die Nachfrage war immens, wie das gedruckte Mitgliederverzeichnis aus dem Jahr 1948 zeigt, das rund tausendzweihundertfünfzig Namen und ein erstaunlich großes soziales Spektrum vom Professor bis zur Postangestellten ausweist. Alle Bemühungen, institutionell wieder eigenständig zu werden, scheiterten letztlich am Kontrollbedürfnis der Partei- und Staatsführung. Im Dezember 1949 wurde die Goethe-Gesellschaft in den Kulturbund als die in Frage kommende Massenorganisation überführt. Mitgliedsbeiträge erhielt die Muttergesellschaft in Weimar, die sich trotz des Mauerbaus nicht teilen ließ. Die finanziellen Mittel für die Arbeit in Leipzig wies der Kulturbund an, der auch organisatorische Aufgaben übernahm. In den 1960er Jahren versuchte er durchaus in die inhaltlichen Planungen einzugreifen, später nicht mehr.
Zur prägenden Gestalt der Leipziger Goethe-Gesellschaft wurde der promovierte Germanist Josef Mattausch, der über vier Jahrzehnte lang den Vorsitz innehatte. Er stellte ab 1974 alleinverantwortlich ein beeindruckend vielfältiges, zumeist öffentlich zugängliches Jahresprogramm auf die Beine, das Vorträge (im Klub der Intelligenz oder in der Leipzig-Information), musikalisch-literarische Veranstaltungen (meist
im Gohliser Schlößchen), Filmgespräche und höchst beliebte Exkursionen umfasste. Immer ging es darum, neben dem Werk Goethes ein umfassendes Bild der ganzen Epoche zu vermitteln und Musik, bildende Künste und Architektur einzubeziehen. Das ab den 1970er Jahren unter DDR-Schriftstellern wachsende Interesse an der Romantik spiegelt sich im Programm ebenso wider wie Fragen der Goethe-Rezeption. Da Mattausch nach jeder Veranstaltung einen kleinen Bericht an den Kulturbund abliefern musste, lassen sich die Aktivitäten und die jeweilige Resonanz recht gut verfolgen. Beispielsweise ist dokumentiert, dass ein Abend über die Faust-Rezeption in der sowjetischen Literatur, vor allem über Michail Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“, im September 1978 auf großes Interesse beim zahlreichen, vorwiegend jüngeren Publikum gestoßen war.
In Mattauschs akkurat geführten Unterlagen haben auch andere Leipziger Akteure Spuren hinterlassen, die sich mit der Goethe-Zeit beschäftigten. So bemühte sich die Fachgruppe Stadtgeschichte um das Grab von Anna Katharina (Käthchen) Schönkopf (1746–1810) und somit um den Erhalt des desolaten Alten Johannisfriedhofs, ebenso um das Wohnhaus des Kupferstechers Christian Gottlieb Geyser (1742–1803) in Eutritzsch, heute ein wichtiges soziokulturelles Zentrum im Leipziger Norden. In der Rückschau sind alle diese Aktivitäten kaum hoch genug einzuschätzen, denn sie vermittelten auf unideologische Weise das Bewusstsein für die Bedeutung der bürgerlichen Kultur Leipzigs, von deren Substanz die Stadt bis heute zehrt.
Als Josef Mattausch im September 1990 den Tätigkeitsbericht der Leipziger Goethe-Gesellschaft für den Zeitraum 1989/90 nach Weimar schickte, fügte er hinzu, dass er das „leider nicht ohne starke Bedenken hinsichtlich der Weiterarbeit in nächster Zukunft“ tue. Die „Wende“ bedeutete einen tiefen Einschnitt, denn wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen musste in kürzester Zeit ein neues System erlernt werden. Das bedeutete, sich in das Vereinsrecht zu vertiefen, die Finanzierung neu zu organisieren und sich in einer plötzlich pluralen Welt zu behaupten. Die Neuorientierung gelang: Am 13. Mai 1992 beschloss die Mitgliederversammlung, die Goethe-Gesellschaft in einen gemeinnützigen Verein umzuwandeln, am 10. September 1992 erfolgte der Eintrag ins Vereinsregister.
Inzwischen sind über dreißig Jahre vergangen. Mattausch gab 2016 den Vorsitz ab, seitdem setzt Michael Pahle, literaturbegeisterter Diplomingenieur im Ruhestand, gemeinsam mit dem Vorstand die Arbeit der Leipziger Goethe-Gesellschaft fort und knüpft an Bewährtes an. Zudem bemüht man sich um die junge Generation und pflegt Kontakt zum Goethe-Gymnasium. Goethe droht heute aus dem Lesekanon der Schulen zu verschwinden, und überhaupt könnte man angesichts des unkalkulierbaren Vormarschs der Künstlichen Intelligenz, die Texte zusammenfasst und also das Selberlesen erspart, Zauberlehrlings-
Gedanken nachhängen. Obwohl: Schülerinnen und Schüler des Goethe-Gymnasiums wanderten im Spätsommer dieses Jahres mit ihrem Lehrer in zwei Etappen von Leipzig nach Bad Lauchstädt, um über die im Unterricht behandelte Faust-Tragödie und das Menschsein nachzudenken, und zwar ohne Smartphone.
Dieser Bericht erschien zuerst in der Ausgabe 87 der „Leipziger Blätter“. Wir danken der Autorin für die Erlaubnis, ihn in unserem Blog übernehmen zu dürfen. Das Titelfoto zeigt (v. l.) Klaus-Michael Weinmann, Bäckermeister Jürgen Kleinert mit Goethe-Lerchen, Maria-Verena Leistner und Michael Pahle von der Leipziger Goethe-Gesellschaft vor der Statue mit Mephisto und Faust vor „Auerbachs Keller“ in Leipzig.




