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Goethes Elefanten

von Jochen Golz

Soll man von Goethes Elefanten sprechen? Was mag sich hinter dem einigermaßen rätselhaften Titel verbergen? Man muss es sogar, zu diesem Entschluss kann gelangen, wer Oliver Matuscheks Darstellung in der Insel-Bücherei nach getaner Lektüre aus der Hand legt. Selten, das sei vorweg gesagt, bin ich so elegant und präzise über ein naturwissenschaftliches Problem informiert worden.

Genau genommen liefert der Titel, modern gesprochen, das Narrativ für ein wissenschaftliches Problem, mit dem sich Goethe jahrzehntelang auseinandergesetzt hat, mit der Frage nämlich, ob dem Menschen ein Zwischenkieferknochen zuzusprechen sei, weil dessen Existenz die These von einem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang von Tier und Mensch verifizieren konnte, wie sie insbesondere Herder in seinen „Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit“ entwickelt hatte. Zwar war die Frage nach dem „Os intermaxillare“ bei Tieren und Menschen im Grunde bereits positiv entschieden worden, doch für Goethe kam die Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen dank eigener anatomischer Sektionsergebnisse – unterstützt vom Jenaer Anatomen Loder – einer Offenbarung gleich. Am 27. März 1784 teilt er Herder mit: „Ich habe gefunden – weder Gold noch Silber, aber was mir eine unsägliche Freude macht – das os intermaxillare am Menschen! […] Es soll dich auch recht herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie!“

Matuschek kann anschaulich darlegen, dass Goethe den Zwischenkieferknochen, um seiner These größere Plausibilität zu verleihen, auch an Tierschädeln ermitteln wollte. So geriet neben anderen Tierschädeln auch der Elefantenschädel in seinen Blick. Ob Goethe 1773 einen lebenden Elefanten gesehen hat, der im Hof des Frankfurter Gasthofes „Goldener Pfau“ zur Schau gestellt wurde, muss Matuschek offenlassen – Vater Goethe aber hat in seinem Haushaltsbuch das Eintrittsgeld für den 18. Juli 1773 penibel vermerkt. Die nächste Gelegenheit ergab sich, als Goethe gemeinsam mit Carl August auf der gemeinsamen Reise in die Schweiz Mitte September 1779 in Kassel Station machte und nach dem Zeugnis eines Dritten jenen Elefanten zu Gesicht bekam, den Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel entweder für teures Geld 1772 aus den Niederlanden erworben oder von dort als Geschenk erhalten hatte; das junge Tier wurde in der landgräflichen Menagerie in der Karlsaue präsentiert. Ende August 1780 kam der Kasseler Elefant bei einem Unfall ums Leben und wurde von dem Anatomen Samuel Thomas Soemmerring in „eines der ersten Großtierpräparate überhaupt“ (S. 36) verwandelt; entsprechend groß war der Aufwand. Goethe, der 1783 in Kassel gemeinsam mit Soemmerring den präparierten Elefanten betrachtet hatte, bat diesen im Brief vom 14. Mai 1784, den Kasseler Elefantenschädel nach Eisenach zu schicken, weil er dort dienstlich zu tun hatte. Dieser veranlasste den nicht ganz einfachen Transport; entgegen der ursprünglichen Verabredung nahm Goethe den Schädel nach Weimar mit, weil er ihn mit dem in Jena vorhandenen vergleichen wollte. Von dem Zeichner Johann Christian Wilhelm Waitz ließ er von beiden Schädeln Zeichnungen anfertigen. Im Sommer 1784 reiste Goethe in Begleitung Carl Augusts nach Braunschweig, wo im Museum ein Elefantenfötus aufbewahrt wurde. Gar zu gern hätte Goethe den Schädel des Fötus untersucht, doch ist ihm wohl rasch klargeworden, dass Herzog Carl Wilhelm Ferdinand niemals dazu seine Einwilligung geben würde. Damit war das Elefanten-Kapitel zunächst abgeschlossen.

Dass Goethe in seine 1784 entstehende Abhandlung zum Zwischenkieferknochen einige Tierschädel, nicht aber den Elefantenschädel einbezog, hatte Gründe. Ihm war bewusst, dass er mit seinem Text und den dazugehörigen Abbildungen sich für die Welt der Wissenschaft möglichst gut gerüstet zeigen musste. Sorgfältig bereitete Goethe sein Entree vor. Er ließ zwei sorgfältig geschriebene, durch Zeichnungen von Waitz angereicherte Prachthandschriften herstellen und sie in Leder binden; Ende 1784 lagen sie vor. Gespannt war Goethe nun, wie die ersten Anatomen ihrer Zeit, der Deutsche Soemmerring und der Holländer Pieter Camper, auf seine Abhandlung reagieren würden. Um es kurz zu machen: Sie reagierten ablehnend. Dass sich Goethe überdies, wie Matuschek einleuchtend ausführt, von seinem Freunde Johann Heinrich Merck, über den die Korrespondenz mit Camper gelaufen war und der selbst praktizierender Anatom war, hinters Licht geführt sehen musste, löste eine tiefe Entfremdung zwischen Goethe und Merck aus. Goethe selbst hat die Ablehnung der Fachgelehrten äußerlich mit Fassung getragen. Erst 1820 hat er seine Abhandlung – ohne die Zeichnungen von Waitz – in seinen Heften „Zur Morphologie“ unter dem Titel „Dem Menschen wie den Thieren ist ein Zwischenkieferknochen der obern Kinnlade zuzuschreiben“ veröffentlicht und durch einen „Mannigfaltigen Nachtrag“ erweitert.

Noch einmal aber kamen für den Naturwissenschaftler Goethe die Elefanten zu Ehren. 1818 war er zum Mitglied der Leopoldina-Akademie berufen worden und kam mit deren Präsidenten Christian Gottfried Nees von Eesenbeck in intensiveren brieflichen Kontakt. In den „Nova Acta Leopoldina“ erschien 1824 Goethes Abhandlung „Zur vergleichenden Osteologie“ mit der Verfasserangabe „von Goethe, mit Zusätzen und Bemerkungen von Dr. Ed. d’Alton“, in die Ansichten von Elefantenschädeln sowie darauf bezogene Texte aus dem „Mannigfaltigen Nachtrag“ aufgenommen wurden. Elefanten, soviel lässt sich aus alledem schließen, haben in Goethes naturwissenschaftlichem Denken und Handeln keine geringe Rolle gespielt.Gewiss ist es eine auf den ersten Blick spröde erscheinende Materie, die hier dargestellt wird. Doch Matuschek versteht es ausgezeichnet, dieser Materie Leben einzuhauchen und ihren kulturgeschichtlichen Hintergrund auszuleuchten; er besorgt das in einer flüssigen und anschaulichen Diktion, die die Lektüre zum Vergnügen macht. Und was nicht gering zu veranschlagen ist: Hinter der Leichtigkeit der Darstellung verbirgt sich eine genaue Erschließung der einschlägigen Quellen, die unmittelbar zum Sprechen gebracht werden. Zahlreichen Experten wird am Schluss gedankt, was ebenfalls nicht alltäglich ist. Angesichts dieses Fazits mögen meine wenigen kritischen Bemerkungen, dass ich die naturwissenschaftlichen Sammlungen in Jena nicht „Carl-August-Museum“ (S. 31) nennen würde und mir Goethes Gedicht „Das Göttliche“ nicht so sehr als „Vorahnung seiner Forschungsergebnisse“ (S. 45) vorkommen will, als unbillige Mäkeleien erscheinen: sie wiegen tatsächlich gering angesichts der Qualitäten des Büchleins. Aus einem zeitgenössischen und modernen Fundus sind zahlreiche Abbildungen ausgewählt worden, die den Text vorzüglich ergänzen. Dem Insel Verlag sei für deren Wiedergabe gedankt. Allen Freunden Goethes, die sich für seine Hinwendung zur Natur interessieren, sei das Bändchen dringend empfohlen.

Oliver Matuschek
Goethes Elefanten

Insel-Bücherei Nr. 1489, Insel Verlag Berlin 2020
110 S., zahlreiche Abbildungen
ISBN: 978-3-458-19489-7

Preis: 14,00 €

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 5/2020.


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