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Das klassische Weimar in wechselnder Beleuchtung – Zu einigen Publikationen des Weimarer Bertuch-Verlags

von Jochen Golz

„Weimar im Urteil der Welt“, unter diesem Titel ist zu DDR-Zeiten eine Anthologie veröffentlicht worden, in der deutsche und ausländische Autoren aus Vergangenheit und Gegenwart sich über das klassische Weimar geäußert haben. Seither ist neues Material ans Tageslicht getreten, das unser Bild um einige Nuancen bereichert hat. Dass ein junger schwedischer Intellektueller namens Bernhard Beskow 1819 Weimar besucht und davon Aufzeichnungen hinterlassen hat, dürfte bislang nur wenigen bekannt gewesen sein. Es ist verdienstvoll – und hier ist wohl vor allem der Übersetzerin Nadine Erler Dank zu sagen –, dass diese Notizen jetzt einem deutschen Publikum bekannt gemacht werden. Beskow, der später geadelt wurde und in hohe Ämter aufsteigen sollte, erweist sich als Freund der deutschen Literatur, als Bewunderer Goethes und Schillers; davon legt sein Bericht ein geradezu enthusiastisches Zeugnis ab. Von seinem Gesprächspartner Goethe entwirft er ein beeindruckendes Porträt. Bei einem Empfang der Großherzogin lernt er Schillers Witwe kennen. „Es ist ein eigenartiges Gefühl“, so hält er fest, „die große Liebe eines Skalden vor sich zu sehen.“ (S. 23) Der Ausdruck „Skalde“ für Schiller ist wohl weniger, wie in den Anmerkungen festgehalten, als Bezeichnung für einen höfischen Dichter, sondern eher als Ausdruck hoher Wertschätzung anzusehen. Wohlwollend sind auch die Charakterbilder, die Beskow von der großherzoglichen Familie zeichnet. Bemerkenswert, dass Carl Augusts liberale Verfassung für das kleine Sachsen-Weimar-Eisenach ausdrücklich gewürdigt wird. Im Einzelnen sollte man seine gefühlvollen Bekundungen nicht in jedem Fall für objektive Wahrheit nehmen; das betrifft auch Beobachtungen zum Interieur im Haus am Frauenplan. Allzu leicht geraten persönliche Erinnerungen in ein verklärendes Licht; Beskow hat seinen Bericht dreizehn Jahre nach seinem Aufenthalt in Weimar verfasst.

Aufschlussreich aber ist der Blick, den ein humanistisch gebildeter Schwede auf das klassische Weimar richtet. Man wüsste gern, ob Beskow seine Beobachtungen aus eigenem Quellenstudium geschöpft oder sich damals geläufige Urteile zu eigen gemacht hat. Denn für ihn existierte in „Deutschlands Athen“ (S. 11) eine Vierergemeinschaft von Wieland, Herder, Goethe und Schiller; in der öffentlichen Meinung hingegen standen Wieland und Herder nicht unbedingt hoch im Kurs. Hier hätte ein ausführlicheres Nachwort – über die knappen biographischen Anmerkungen hinaus – Abhilfe schaffen können. Dort wäre auch Gelegenheit gewesen, seinen Gesamtreisebericht vorzustellen, in dem das Weimar-Kapitel nur einen Bruchteil darstellt. Gern hätte man darüber hinaus gewusst, wie sich Beskow in Schule und Universität über das klassische Weimar hatte informieren können, welche Persönlichkeiten auf seine Entwicklung besonderen Einfluss genommen haben. Verdienstvoll wäre das auch deshalb gewesen, weil das geistige Leben in Nordeuropa zu Beginn des 19. Jahrhunderts weithin noch eine Terra incognita darstellt. Jüngst war in Weimar als Stipendiatin der Goethe-Gesellschaft eine junge Germanistin aus Schweden zu Gast, die an einer monographischen Darstellung von Amalie von Helvig arbeitet, die unter ihrem Mädchennamen Amalie von Imhoff als attraktive junge Frau in Weimar nicht nur Schiller und Goethe verzaubert hat; mit Goethe ist sie, dann in Schweden verheiratet, lange in Verbindung geblieben. Mit Beskow war sie ebenfalls in Kontakt; ob sie mit ihm ‚vernetzt‘ war, wie man heute zu sagen pflegt, wäre noch weiter zu ermitteln. Dass wir aber überhaupt Kenntnis von den Weimar-Erinnerungen Beskows erhalten, ist buchenswert. Nehmen wir die kleine Publikation als Anlass, Nordeuropa als Schauplatz der Goethe-Verehrung stärker in den Blick zu nehmen.

Prominenter ist da schon die Engländerin Mary Ann Evans, die unter dem Pseudonym George Eliot eine der bedeutendsten Romanautorinnen des 19. Jahrhunderts geworden ist. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten George Henry Lewes, der aber mit einer anderen Frau verheiratet war, unternahm sie im Sommer 1854 eine Reise nach Weimar und Berlin; drei Monate blieb sie in Weimar und Thüringen. Ein Jahr später erschienen bereits ihre Weimar-Reminiszenzen unter dem Titel „Three Months in Weimar“ in „Frasers Magazine for Town and Country“. Wer heute Weimar besucht, kann an der gegenüber der Eckermann-Buchhandlung gelegenen Hauswand eine Tafel wahrnehmen, auf der an den Aufenthalt des Paares erinnert wird; entstanden ist sie auf Betreiben englischer Goethe-Freunde, denn Lewes ist der Autor einer 1855 erschienenen Goethe-Monographie, die Maßstäbe gesetzt hat, große Resonanz erfuhr und in mehrere europäische Sprachen übersetzt wurde.

Hatte Beskow noch Goethe begegnen können, so kann George Eliot das klassische Weimar nur im Spiegel der Erinnerung aus zweiter Hand schildern; ihr wichtigster Gesprächspartner wird Liszt, Repräsentant des ‚silbernen‘ Zeitalters. Aus Frankfurt mit der Eisenbahn anreisend, nimmt sie Weimar zunächst als verschlafene „Marktstadt“ wahr und schließt die Frage an: „Und das soll das Athen des Nordens sein?“ (S. 7) Wenig später: „Wie konnte Goethe in diesem langweiligen, leblosen Dorf wohnen?“ (S. 8) Vergessen wir nicht: England war damals das Land mit dem höchsten zivilisatorischen Standard in Europa, der Kontinent galt den gebildeten Engländern, wenn sie denn den Fuß auf ihn setzten, in dieser Hinsicht als hoffnungslos zurückgeblieben. So ist auch Eliots Blick auf die deutsche Esskultur und das Alltagstreiben überhaupt entsprechend gefärbt; zumindest das Weimarer Vogelschießen findet Gnade vor ihren Augen. Den Einwohnern Weimars attestiert sie ein „stumpfsinnige[s] Wohlbehagen“ (S. 9); nur im Sommer gäben sie sich ihrem „Waschungstrieb“ hin, „für den Rest des Jahres reicht ihnen eine kleine Schüssel.“ (S. 23)

Einen Sinneswandel bewirken zunächst ihre Spaziergänge im Park an der Ilm, „der sogar unter englischen Parks als besonders schön herausstechen würde“ (S. 9), wo sie Goethes Gartenhaus aufsucht, den Schlangenstein wahrnimmt (und eine Legende dazu mitteilt) und sich danach Zug um Zug das nachklassische Weimar erschließt: das Stadtschloss mit seinen Dichterzimmern, die Bibliothek, zu der sie interessante historische Einzelheiten mitzuteilen weiß, die Parks und Schlösser von Tiefurt, Belvedere und Ettersburg. Ein Ausflug nach Bad Berka lässt sie ein Loblied auf die thüringische Landschaft anstimmen. Bei ihr vermischen sich persönliche Eindrücke, die als authentisch anzusehen sind, mit Erzählungen und Anekdoten, die ihr mitgeteilt worden sind und in ihre Darstellung einfließen; hier hätten ausführlichere Anmerkungen Orientierung geben können, denn es ist niemals auszuschließen, dass gerade Anekdoten von zweifelhaftem Wert, aber suggestiver Wirksamkeit in das Repertoire z. B. von Stadtführern einwandern. Das gilt auch für ihre Beschreibung der Wohnhäuser von Schiller und Goethe – immerhin hatten die illustren Gäste das Privileg, das Haus am Frauenplan überhaupt betreten zu dürfen. Alles in allem ist eine reizvolle Darstellung der Weimarer städtischen Szenerie entstanden, gesehen durch ein impulsives englisches Temperament. Bemerkenswert auch hier, dass das klassische Weimar stets als Zusammenwirken der großen Vier – Wieland, Herder, Goethe und Schiller – begriffen wird.

Vielseitig sind George Eliots kulturelle Interessen. Lewes und sie besuchen Aufführungen im Weimarer Theater, hören Verdis (?) „Ernani“ – „Liszt sah hervorragend aus, als er die Oper dirigierte“ (S. 31) – und gleich drei Wagner-Opern („Lohengrin“, „Der fliegende Holländer“ und „Tannhäuser“), zudem auch den „Freischütz“ – da kann man nur sagen: Ein großes Kompliment für das Repertoire des damaligen Hoftheaters; Webers „Freischütz“ wird „herrliche Musik“ zugestanden (Weber war in England, wie wir wissen, sehr populär), doch wurde alle Bühnenillusion zunichte, als Kaspar (vermutlich gegen Ende) in der Weimarer Aufführung auf einen Baum klettern musste. In der Altenburg begegnen beide Liszt, der Fürstin Sayn-Wittgenstein und ihrer siebzehnjährigen Tochter Marie, die Jahrzehnte später den Nachlass Liszts Weimar überlassen wird. In Liszts intellektuellem Zirkel treffen sie auf Hoffmann von Fallersleben, der Gedichte vorträgt, auf Cornelius (nicht den Maler, sondern den Komponisten Peter Cornelius) und auf einen Herrn Dr. Raff, den das Weimarer Opernpublikum mittlerweile als Komponisten der gerade uraufgeführten Oper „Samson“ kennengelernt hat. Liszts Klavierspiel reist Eliot zu Bewunderung hin; ihr Porträt des Virtuosen, Dirigenten und Komponisten ist, wie ihr gesamter Text auch, von hoher literarischer Qualität. Wiederum ist der Übersetzerin sehr zu danken.

Mich hat ein wenig verwundert, dass die beiden Büchlein (oder besser: Broschüren) von Beskow und Eliot in unterschiedlichen Formaten erschienen sind. Dem Verlag wäre zu empfehlen, seine Entdeckungsreise fortzusetzen, neue Titel aber in einheitlichem Format und möglichst unter einem Reihentitel in einheitlicher Ausstattung zu veröffentlichen. Die Sache selbst lohnte sich. Ich könnte mir vorstellen, dass vor allem Weimar-Touristen gern zu solchen Darstellungen greifen.

Eine dritte Veröffentlichung des Verlages soll noch angezeigt werden. Der 1931 geborene Leipziger Germanist Horst Nalewski rekonstruiert „Goethes Begegnungen mit Felix Mendelssohn Bartholdy 1821–1830“ (so der Untertitel); „Goethe hat ihn bewundert“, so der Haupttitel. Aus einem 2009 im Leipziger Schumann-Haus gehaltenen Vortrag ist eine schöne Studie hervorgegangen, die ebenso anschaulich wie sorgfältig die Beziehung beider Künstler darstellt. Ihren besonderen Reiz gewinnt die Veröffentlichung durch die Einblendung von Goethe-Vertonungen Mendelssohns – die technische Entwicklung macht es möglich –, die als Klangbeispiele abgerufen werden können. Wer sich über das Thema informieren will, wird hier vorzüglich bedient. Vielleicht hat der Verlag eine Marktlücke entdeckt; eine Fortsetzung wäre zu wünschen.

Bertuch-Verlag
Bertuch-Verlag
Bertuch-Verlag

Bernhard Beskow
Erinnerungen an Goethes Weimar

Weimar 2022
Paperback, 38 Seiten
ISBN: 978-3-86397-158-8

Preis: 6,80 €

George Eliot
Zu Gast in Weimar

Weimar 2019
Paperback, 40 Seiten
ISBN: 978-3-86397-108-3

Preis: 4,00 €

Horst Nalewski
Goethe hat ihn bewundert. Goethes Begegnungen mit Felix Mendelsohn Bartholdy 1821-1830

Weimar 2022
Paperback, 33 Seiten
ISBN: 978-3-86397-173-1

Preis: 7,50 €


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