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Goethe weltweit, Neue Bücher

Medea in der Kolchis – Blicke auf einen Sammelband georgischer Germanisten

von Jochen Golz

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit, so ließe sich, Thomas Mann zitierend, im Hinblick auf ein übergreifendes Thema des vorliegenden Buches sagen. Die Kolchis, eine an das Schwarze Meer angrenzende Landschaft im heutigen Georgien, galt in der Antike ihres Goldreichtums wegen als ein begehrtes Ziel von Kolonisatoren, so auch jener sagenhaften Argonauten aus Griechenland, die unter Jasons Führung dort das Goldene Vlies raubten; gelingen konnte das nur, weil die zauberkundige kolchische Königstochter Medea – aus Liebe zu Jason – mit den Argonauten im Bunde war. Freiwillig folgte sie ihm nach Griechenland und musste erleben, dass er sich einer anderen, der Königstochter Glauke, zuwandte. Aus Rache tötete sie Glauke und die beiden Kinder, die sie Jason geboren hatte – dies in knappster Form die Sage um Medea.

Kutaissi, die georgische Universitätsstadt in der Mitte des Landes, befindet sich ungefähr dort, wo die antike Kolchis gelegen hat; seither sind über 2000 Jahre vergangen. Lebendig geblieben aber ist die Erinnerung. Es liegt darum nahe, dass auch heutige Literaturwissenschaftler sich dem Mythos um Medea und dessen Gestaltung in Kunstwerken aus Vergangenheit und Gegenwart zuwenden. Das Spektrum reicht von dramatischen Darstellungen, die mit Euripides beginnen, bis zu Prosa-Variationen des Themas bei Christa Wolf und Giwi Margwelaschwili. Nino Chikhladze behandelt, auf Euripides und Wolf Bezug nehmend, die „Kunst mit Emotionen zu spielen“ – so der Titel ihres Beitrags. Christa Wolf, so wird herausgearbeitet, wolle in ihrem Text „Medea. Stimmen“ in bewusster Abkehr von der Tradition „dem Unausgegorenen, Tabuisierten der Vergangenheit eine Stimme geben“ (S. 11); für sie sei Medea keine Mörderin, sondern unter dem Zwang von Umständen, die Wolf neu und anders konstruiert, eine selbstbewusst und letztlich human Handelnde, die zugleich das Los der Vertriebenen, der Immigrantin tragen müsse. Einen ganz anderen Zugang zum Medea-Mythos findet der deutsch-georgische Philosoph und Schriftsteller Giwi Margwelaschwili (1927-2020), dessen Leben sich als Spiegel der politischen Konflikte des vergangenen und jetzigen Jahrhunderts erweist; die „Auseinandersetzung mit einem totalitären Regime“, so heißt es bei Nugesha Gagnidze, „ist das Hauptthema seines Schaffens“ (S. 32). In seinem Roman „Die Medea von Kolchis in Kolchos“ (2017) hat er einen spielerischen Umgang mit dem Mythos erprobt, indem er die antike Medea in einen Kolchos, in eine sowjetische landwirtschaftliche Kollektivwirtschaft, versetzt. Es lohnte sich, diesen Text einmal auf Deutsch zu lesen. Das Thema der Migration, bei den genannten Autoren mittelbar gegenwärtig, spielt in dem Essay „Doppelpunktnomade“ von Saša Stanišić, dem sich Nino Kvirikadze zuwendet, eine große Rolle. Methodisch ist Kvirikadzes Herangehen deshalb interessant, weil sie sich dem Text mit linguistischen Verfahren nähert, „Wortreihen“ (semantische Schlüsselwörter) zusammenstellt und auf diese Weise den Sinngehalt erschließt. Der Autor, so hält sie abschließend fest, besitze „zwei verschiedene Heimaten“ (S. 78), lebe zwar meist in Deutschland, könne sich aber seine bosnische Heimat nicht aus dem Sinn schlagen; er bleibe ein „Doppelpunktnomade“.

Zu den traditionellen Forschungsthemen in Kutaissi gehören die großen deutschen Romanautoren des 20. Jahrhunderts, Thomas Mann, Hermann Hesse und Alfred Döblin, darüber hinaus auch Untersuchungen zur deutschen Romantik. Das zuletzt genannte Thema behandelt Yelena Etaryan, Germanistin aus dem armenischen Jerewan, in einem Beitrag, der sich der „Polarität des Seins“ bei E.T.A. Hoffmann und Thomas Mann widmet. Einen Schwerpunkt bilden Arbeiten zu Thomas Mann, ob nun Nanuli Kakauridze klug und prägnant Thomas Manns Rede „Deutschland und die Deutschen“ im Kontext zeitgenössischer Politik analysiert oder Anna Khukhua, die von Werner Frizen besorgte kritische Edition von Thomas Manns „Lotte in Weimar“ nutzend, der Frage nachgeht, inwiefern Charlotte Kestner als reales Vorbild für die literarische Lotte in Thomas Manns Roman anzusehen sei. Zur Frage der Komposition von Goethes „Wilhelm Meister“-Romanen und Hesses „Glasperlenspiel“ äußert sich Tamari Napetvaridze, die sich diesem Problem auch während ihres Aufenthaltes als Werner-Keller-Stipendiatin in Weimar gewidmet hat. In knapper, konzentrierter Form wendet sich Irine Schischinaschwili dem Thema „Individuum und Großstadtmilieu in Alfred Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘“ zu.

Wie in zurückliegenden Sammelbänden auch, kommen Wissenschaftler benachbarter Disziplinen zu Wort, wird das Forschungsspektrum der Staatlichen Akaki-Zereteli-Universität farbiger und vielfältiger. Mirian Ebanoidze handelt über „Heidegger und das östliche Denken“, Baia Koguaschwili informiert über „Intermediäre Aspekte zur Interpretation von Medeas Gestalt in westeuropäischer Dramatik und Musik“, wobei sie den Weg der Künste von Euripides über Corneille, Cherubini und Grillparzer nachzeichnet und auch einen Blick auf die Theatertradition in Kutaissi wirft. Wer sich für die „polyphonen Zyklen von Bach und Hindemith“ interessiert, wird von Irina Sarukhanova und Tatiana Dshavakhishvili gut und ausreichend informiert.

Sprachwissenschaftliche Beiträge gehören traditionsgemäß zu den Schwerpunkten der Sammelbände aus Kutaissi. Einige zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus der Kooperation mit Kollegen der Friedrich-Schiller-Universität Jena entstanden sind. Seit Jahrzehnten bestehen intensive Arbeitsbeziehungen zwischen Kutaissi und Jena. Beeindruckend ist die auf S. 153 präsentierte Übersicht über bereits vorliegende deutsch-georgische Wörterbücher. Ein Ergebnis der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Kutaissi und Jena ist das „deutsch-georgische Wörterbuch der nicht flektierbaren Wörter“, von dem bereits zwei Bände erschienen sind und das hier in seiner Anlage vorgestellt wird. Was alle hier veröffentlichten sprachwissenschaftlichen Beiträge auszeichnet, ist das Reflektieren des jeweiligen Forschungsstandes und das Einbeziehen des aktuell geschriebenen und gesprochenen Deutschs, zumeist repräsentiert durch Printmedien. Kulturell aufschlussreich ist ein Aufsatz über „Genderspezifische Tabuthemen im DaF-Unterricht an der Staatlichen Akaki-Zereteli Universität Kutaissi“, in dem bilanziert wird, dass junge Georgier „deutlich traditioneller eingestellt“ seien „als junge Erwachsene in Deutschland“, ohne dass dieses Verhalten zu Hass und Gewalt führe. Das Gegenteil sei richtig: „Den georgischen Studierenden fällt es zwar ziemlich schwer, sich in die Rolle nicht-heterosexueller Menschen zu versetzen, aber sie sind eindeutig gegen Kritik, Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt bezüglich der sexuellen Identität“ (S. 118).

Eine wirkliche Trouvaille stellt im sprachwissenschaftlichen Teil des Buches der Beitrag des in Deutschland lebenden Übersetzers Tamaz Gvenetadze dar, denn er stellt einen deutschsprachigen Roman vor, dessen Abschrift sich in der Wiener Nationalbibliothek befindet, der aber bislang, und zwar erst seit 2020, nur in Gvenetadzes Übersetzung ins Georgische vorliegt. Es handelt sich um den Roman „Die Iberer“ des österreichischen Schriftstellers Arthur Gundaccar von Suttner, Ehemann der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, deren Antikriegsbuch „Die Waffen nieder“ noch in vieler Munde ist, ohne dass ebenso viele es gelesen haben. Zwischen 1876 und 1895 haben sich die Suttners in Georgien aufgehalten. Eine Frucht dieser Jahre ist der Roman, in dessen Mittelpunkt das damalige Georgien steht, Spielball der politischen Interessen von Russland auf der einen, der Türkei auf der anderen Seite. Kapitel für Kapitel informiert Gvenetadze höchst anschaulich über den Inhalt des Romans, der allein schon stofflich fasziniert. Auch wenn die vorliegenden Informationen kein Urteil über die ästhetische Qualität des Romans zulassen, einen Versuch, dafür einen deutschen Verlag zu finden, wäre es wert.

Dass zum bunten Spektrum der modernen Sprachwissenschaft auch die ‚Politolinguistik‘ gehört, habe ich aus einem Beitrag gelernt, der sich einer „vergleichenden Analyse der Neujahrsansprachen“ von Angela Merkel, Gerhard Schröder und Olaf Scholz widmet – eine lohnende Lektüre, lohnend nicht zuletzt wegen der abschließenden Sätze: „Hier werden überwiegend das Ideologievokabular und das allgemeine Interaktionsvokabular verwendet. Verschiedene Argumente dienen zur Eigenwerbung und in erster Linie zur Überzeugung der Bürger/innen. […] Alle Emittenten […] verwenden mannigfaltige rhetorische Figuren und andere stilistische Mittel, um den persuasiven und emotionalen Charakter ihrer Reden zu stärken. Auf der lexikalischen Seite sind Hochwertwörter zu erwähnen, die die positive emotive Überzeugung intensivieren und zur Konsolidierung beitragen. Zur Darstellung ihrer Nähe zu den Bürger/innen benutzen die Akteure umgangssprachliche Ausdrücke. Hierbei muss auch erwähnt werden, dass die festgestellten Besonderheiten des sprachlichen Handelns der Emittenten nicht pauschalisiert werden können. Um weitere Schlussfolgerungen zu ziehen, muss ein größeres Korpus zur Analyse herangezogen werden. Darüber hinaus wäre es wünschenswert, deutsche und georgische Neujahrsansprachen kontrastiv zu untersuchen“ (S. 250). Nur zu, lässt sich da beistimmend sagen. Hinter dem linguistischen Schutzmantel werden einige politische Wahrheiten erkennbar.

Damit seien meine Blicke beschlossen. Wiederum haben Germanisten aus Kutaissi einen Sammelband vorgelegt, dessen Lektüre vielerlei Aufschluss gewährt. Dass der Band – wie seine Vorgänger auch – nur zustande kommen konnte, weil es die Goethe-Gesellschaft in Kutaissi und deren Spiritus rector Prof. Nanuli Kakauridze gibt, sei ausdrücklich hinzugefügt. Zwar ist nur in einem Beitrag von Goethe explizit die Rede, doch sein Konzept von Weltliteratur bildet das geheime Zentrum des Bandes. Hervorzuheben ist auch, dass wiederum die DAAD-Lektorin Maxi Bornmann das Buch redigiert und mitherausgegeben hat. Mit Interesse sehen wir weiteren Bänden aus Kutaissi entgegen.

(c) Verlag der Staatlichen Akaki-Zereteli-Universität Kutaissi

Nanuli Kakauridze und Maxi Bornmann (Hrsg.)

Goethe-Tage 2022

Kutaissi 2022
294 Seiten
ISBN 978-9941-495-88-5


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