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Wie Goethe zum „Sohnemann“ wurde – Anmerkungen zu einem Buch von Chiara Santucci Ganzert

von Jochen Golz

Schier unübersehbar ist mittlerweile die Literatur über die Italien-Erfahrungen deutscher Künstler und Gelehrten. Das lässt sich im Speziellen auch von den Studien über drei Generationen Goethe sagen, die sich im Land ihrer Sehnsucht aufgehalten haben. 1740 unternahm des Dichters Vater Johann Caspar Goethe eine ausgedehnte Bildungsreise in den Süden, von 1786 bis 1788 hielt sich der Sohn Johann Wolfgang in Italien auf – in das er im Frühjahr 1790 noch einmal zurückkehren musste, um Herzogin Anna Amalia standesgemäß abzuholen –, 1830 schließlich suchte Sohn August Italien auf, wo er starb und auf dem protestantischen Friedhof in Rom begraben wurde. Alle drei Reisenden haben Aufzeichnungen hinterlassen, die mittlerweile in Buchform vorliegen: Johann Caspar Goethe ein handschriftliches Reisejournal, der Dichter seine „Italienische Reise“, August von Goethe persönliche Aufzeichnungen und Briefe. 

Die Reiseschilderungen von Goethes Vater sind – vermutlich erst gut 20 Jahre nach der Reise selbst – in einem fehlerhaften Italienisch niedergeschrieben und erstmals 1932 von dem italienischen Gelehrten Arturo Farinelli in der Originalsprache gekürzt veröffentlicht worden; einem deutschen Lesepublikum wurden sie erst zugänglich, als der Kieler Germanist Albert Meier 1986 eine vollständige kommentierte Übersetzung vorlegte, die – zusammen mit einem profunden Nachwort – das Fundament für jede Beschäftigung mit dem Werk bildet. Chiara Ganzert hat beide Versionen heranziehen können, so dass ihre sachlichen Urteile über Johann Caspar Goethes Reisejournal sich als weithin zutreffend erweisen. Der Reisende urteilt aus der Perspektive eines gebildeten, aufgeklärten Protestanten, der sich von Natur und Kultur Italiens einen enzyklopädischen Eindruck verschaffen will, dem der katholische Prunk ein Dorn im Auge ist, der Ablass und Aberglauben verwirft, aufmerksam soziale und kulturelle Probleme registriert, auch einen Blick für politische Fragen besitzt. So ist „ein außergewöhnlich sachliches und getreues Abbild des Italien im 18. Jahrhundert“ (S. 44) zustande gekommen, wobei hinzuzufügen ist, dass Goethe bei seiner Darstellung aus zahlreichen Quellen zitiert, sich formal an die Traditionen aufklärerischer Reiseprosa anlehnt, wenn er die Briefform wählt, so dass sich die literarische Originalität seines Textes in engeren Grenzen bewegt.

Dem Urteil, dass das Manuskript „Interesse für die gesellschaftlichen und religiösen Aspekte des Italiens seiner Zeit“ (S 38 f.) bezeuge, kann man zustimmen. Einspruch ist gegen eine andere Tendenz des Buches einzulegen. Die Autorin ist der Versuchung nicht entgangen, in der Rahmenerzählung ihrer Darstellung, in der das Vater-Sohn-Verhältnis zur Sprache kommt, so etwas wie eine Konkurrenzsituation zwischen Vater und Sohn zu konstruieren. Johann Caspar Goethe hat seine Aufzeichnungen als persönliches Dokument hinterlassen, hat sie selbst in kostbares Leder binden lassen – was den Schluss zulässt, dass das Exemplar zum Vorzeigen, vielleicht auch zum Vorlesen in geselliger Runde bestimmt war –, doch für eine Veröffentlichungsabsicht liegen keine Zeugnisse vor; vermögend genug wäre er gewesen, einen Privatdruck zu finanzieren, doch was sollte ein italienisches Buch auf dem deutschen Markt? Von einem Buch kann man konsequenterweise überhaupt erst seit der italienischen Ausgabe und seit Meiers Übersetzung sprechen. Nach dem Tod des Vaters ist das Manuskript in das Eigentum des Sohnes übergegangen; heute befindet es sich im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. Von einer Konkurrenzsituation kann angesichts dieser Überlieferungssituation keine Rede sein. Das trifft auch für die persönlichen Intentionen von Vater und Sohn zu. Johann Caspar Goethe unternahm –ungewöhnlich genug – eine ausgedehnte Reise, wie sie sonst als Kavalierstour dem höheren Adel vorbehalten war; für diesen war eine solche Reise in der Regel keine bloße Vergnügungsreise, vielmehr sollte sie auf ein künftiges Regierungsamt vorbereiten. Vater Goethe wird vor allem seine Italienleidenschaft geleitet haben, und er war vermögend genug, um dieser Intention nachzugeben; zudem war er stolzer Bürger einer Freien Reichsstadt, der selbständig zu urteilen wusste und mit Adelskritik nicht hinter dem Berge hielt. Wir wissen, dass sich seine Leidenschaft für Italien auf den Sohn übertragen hat. Dessen Italienaufenthalt gehorchte aber ganz anderen Impulsen, und entsprechend anders sind auch seine Aufzeichnungen, die in zwei Teilen als „Italienische Reise“ 1816/17 erschienen und 1829 durch einen dritten Teil, „Zweiter römischer Aufenthalt“ überschrieben, komplettiert wurden. Haben die Schilderungen des Vaters den Charakter eines mehr oder minder trocken-sachlichen, mit zahlreichen Quellenzitaten versehenen Berichts, der überdies nicht wenige wörtlichen Anleihen bei zeitgenössischen Reiseführern aufweist, so spiegeln die Aufzeichnungen des Sohnes dessen persönliches Erleben wider; nicht das objektive, auf Wissenserwerb zielende Registrieren von Land und Leuten steht im Vordergrund, sondern jene innere Wiedergeburt, die er in der Anschauung großer Kunst, einer lebendigen Volksmenge und einer beeindruckenden Natur erfahren hat. Gehört der Bericht des Vaters in die Tradition der chronikalischen Reiseschilderungen, wie sie z. B. durch Goethes Cicerone Volkmann vorgelegt worden sind, so eröffnet der Text des Sohnes – ein großartiges autobiographisches Dokument – ein neues Zeitalter der Reiseliteratur.

Insofern ist es im Grunde unsinnig, einen Vergleich zwischen diesen beiden unvergleichbaren Werken anzustellen. Ganzert kann in ihrer Rahmenerzählung aber davon nicht lassen und betätigt sich außerdem als psychologische Spurensucherin, wenn sie einen charakterlichen Gegensatz zwischen Vater und Sohn konstruiert: hier der treusorgende Vater, dort der Sohn – unduldsam, schnippisch-arrogant, überheblich bis spöttisch, so einige Attribute aus dem Charakterkatalog –, der sich „wie so oft ziemlich anmaßend“ (S. 14) verhält und mehrfach mit schulterklopfender Vertraulichkeit als „Sohnemann“ tituliert wird. Der Vater habe ein Buch geschrieben, „das vom arroganten Universalgenie Johann Wolfgang […] einfach links liegen gelassen wurde“. (S. 127) Der Vater, so Ganzert, habe „authentische Beobachtungen“ vorgelegt, doch dieser zutreffenden Feststellung folgt der Satz: „[…] er hat uns mit wichtigen Fakten versorgt, anstatt sich als Dichter zu mausern und Italien mit Lobhudeleien zu besingen.“ (S. 133) Der Leser möge sich zu diesen verqueren Behauptungen selbst ein Urteil bilden. Sicher war das Verhältnis des Sohnes zum Vater nicht einfach, doch zu waghalsigen Spekulationen gibt das, was wir darüber wissen, keinen Anlass. Der Schlussabsatz des Buches sei vollständig zitiert, weil dort noch einmal das Abseitige der Behauptungen zusammengefasst ist: „Aber unabhängig von der spannenden und spannungsreichen Vater-Sohn-Beziehung im Hause Goethe und den Konkurrenzproblemen zwischen Johann Caspar und Johann Wolfgang scheint eines unbestritten zu sein: so unterschiedlich die Einstellungen dieser ewigen ‚Duellanten‘ zu Italien und dem Reisen allgemein auch gewesen sein mögen, so hatte die Erfahrung in Arkadien doch beide entscheidend und einschneidend geprägt und ironischer Weise durch ihre Reiseberichte, wenn auch sozusagen posthum, so aufeinander angewiesen gemacht, das man im Grunde die zwei ‚Italienischen Reisen‘ nicht unabhängig voneinander, sondern unbedingt nebeneinander lesen sollte. Das hätte auf jeden Fall den einen jedoch nicht geringen Vorteil, dass nämlich das Bild von uns Heutigen auf das damalige Italien nicht länger lediglich durch die teilweise zu rosarote Brille des Johann Wolfgang betrachtet werden müsste.“ (S. 136) So ehrenwert die ‚Rettung‘ von Vater Goethes trockener Reiseprosa ist, für das Verständnis der „Italienischen Reise“ des Sohnes wäre der Autorin eine andere Brille zu empfehlen.

Chiara Santucci Ganzert
Johann Caspar Goethe und seine Reise in Italien(isch)

Aschendorff Verlag, Münster 2021
142 Seiten
ISBN: 978-3-402-24809-6

Preis: 14,90 €

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 3/2021.


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