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Nature Writing mit Tradition – Podiumsdiskussion zu Goethe und Naturdichtung
Nach all den gewichtigen Vorträgen und Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Fragen mag den Teilnehmern der 89. Hauptversammlung das Podium mit der Diskussion erfolgreicher Lyriker über Goethes Aktualität und sein Fortleben in der heutigen Dichtung als ein besonderes Bonbon erschienen sein. Zum Thema „Natur dichten. Goethe und die Gegenwart“ hatten sich Daniela Danz aus Kranichfeld, Heinrich Detering aus Göttingen, Dirk von Petersdorff aus Jena und Sophie Reyer aus Baden zusammengefunden. Moderiert wurde ihr Gespräch von Paula Wojcik aus Wien und Frieder von Ammon aus München.
Als „Sprungbretter für die Diskussion“ sollten, so Frieder von Ammon in seiner Begrüßung, Goethe-Zitate dienen, die den Diskutanten im Leben und für ihre Arbeit besonders wichtig waren. Sophie Reyer erinnerte an Worte von Mephistopheles gegenüber Faust im Studierzimmer: „Du bist am Ende – was du bist./ Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,/ Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken,/ Du bleibst doch immer, was du bist.“ Daran werde deutlich, wie sehr sich unsere Welt seit Goethes Zeit verändert habe, bedenke man die Möglichkeiten moderner KI – sie erlaube nicht nur, sich digital aufzuhübschen oder zu verkleiden, sondern ermögliche es darüber hinaus auch, fiktive Auftritte technisch so zu gestalten, dass sie authentisch wirken.
Heinrich Detering wies auf Goethes Erinnerung „Glückliches Ereignis“ hin und darauf, dass er und Schiller unterschiedliche Zugänge zur Natur gefunden hätten, obwohl die Natur und ihr Schutz beiden gleichermaßen wichtig war. Goethe begriff sich als Teil der Natur. Es ginge uns allen besser, meinte Heinrich Detering, wenn wir von diesem behutsamen Umgang mit ihr etwas lernten. Daniela Danz erläuterte, dass Goethes Beschäftigung mit der Natur als tätige Sorge um ihren Erhalt Eingang in seine Dichtung gefunden habe, wie in „Wandrers Nachtlied“. Dirk von Petersdorf hob Goethes exakte und detaillierte Naturschilderungen hervor. Etwa wenn er Wetter und Wolken an einzelnen Tagen mit wissenschaftlicher Genauigkeit dokumentierte oder auch in stimmungsvolle Bilder fasste: „Wenn das liebe Tal um mich dampft …“
Anknüpfen an Traditionen …
„Ganz aufregend“ fand Frieder von Ammon die Neuentdeckung alter Traditionslinien seit 20 Jahren. „Nature Writing“ stoße auf Interesse, Texte dieser Art würden von Verlagen aufgegriffen und deshalb stelle sich die Frage, inwieweit Goethe und Hölderlin Anknüpfungspunkte bieten könnten, wie sich welche Traditionen aufgreifen ließen. Heinrich Detering sprach gerade diese älteren Beispiele an. Die Umwelt werde hier so geschildert, dass natürliche Erscheinungen quasi als Helden auftreten. Goethe vermeide jeden Schematismus von Landschafts-Beschreibungen, beziehe sich selbst als erlebender Mensch in die Naturtexte ein, zeige kein ministerielles Ich, sondern sich ganz selbstverständlich im Zusammenhang der Interaktion mit der Natur. Sein Verhältnis zu ihr weise erotische Züge der Annäherung auf. Er thematisiere, selbst ein Bestandteil dieser umfassenden Natur zu sein.
Daniela Danz beobachtete, dass sich die Objekte der Beschreibung geändert hätten und das Verhältnis der Autoren zu ihnen. Während Goethe an Gesteinen die Geschichte der Erde demonstriert habe, träten heute andere Interessen in den Vordergrund. Etwa in einer Publikation über Raupen. Goethe habe seinerzeit die Raupenplage bekämpft, da sie zu Waldschäden führte während Dürreperioden in kalten Jahren. Ihm sei es um die Konkurrenz zwischen Mensch und Raupe gegangen, um die Sicherung der Lebensgrundlagen für die Bürger. Heinrich Detering wies auf die Konsequenzen unterschiedlicher Perspektiven hin: Das Gedicht eines Fuchses über Gänse klänge anders, als wenn Gänse in Versen ihre Empfindungen und Gefühle gegenüber Füchsen zum Ausdruck brächten. Relevant sei jeweils das Verhältnis von Mensch, Natur und Wissenschaft, meinte Sophie Reyer, ob man die Bereiche trenne oder Poesie und Wissenschaft ineinander übergehen lasse. Als eine „Schule der Aufmerksamkeit“ begriff Heinrich Detering den Wert von Goethes Dichtungen, er lehre, genau hinzusehen und Gegenstände wie auch die Verhältnisse, in denen sie existieren, genau zu beobachten. Goethe habe den Versuch unternommen, etwa mit der „Metamorphose der Pflanzen“, durch einen poetischen Text wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln.
… und Wechsel der Perspektiven …
Die Frage, inwieweit Goethes damalige Forschungen heute noch von Bedeutung seien, rief eine lebhafte Debatte hervor. Auch wenn viele seiner Thesen sich inzwischen als irrige Annahmen herausgestellt hätten, sei Goethe doch schöpferisch und ertragreich vorwärts geirrt. Er habe versucht, stellte Heinrich Detering fest, auf produktive Weise aus den Beschränkungen der Botanik herauszukommen. Mit seinen Analogien und Genealogien habe er Bewegungsgesetze angenommen, Spiralbewegungen vermutet, sei auf diese Weise nah an die Vorstellung der Evolution gelangt. Goethe habe sich für die Natur interessiert, soweit sie mit seinen Ideen übereinstimmte, fasste Daniela Danz zusammen. Offen blieb die Frage, ob und wieweit der Mensch und die natürlichen Vorgänge in ihren Entwicklungen frei seien oder determiniert. Goethe und Christiane hätten ihre Liebe in freier Entscheidung gestaltet, die Metamorphose der Pflanzen sei botanisch bestimmt und eben nicht frei.
Heinrich Detering griff die „Wahlverwandtschaften“ auf. An Hand eines Begriffes aus der Chemie habe Goethe exemplarisch demonstriert, dass ein Mensch wie Eduard versuche frei zu entscheiden und zu leben. Wie alle anderen Figuren des Romans scheitere aber auch er in seiner Absicht, selbst sein Handeln zu bestimmen. Einzig Ottilie gelinge es mit ihrem Hungertod, sich frei zu entscheiden, sich aus dem Leben zurückzuziehen. Goethe frage, ergänzte Dirk von Petersdorff, am Beispiel der „Wahlverwandtschaften“, was Menschen in ihrem Verhalten steuere: „Warum war ich nicht frei?“ Gegen Ende des „Faust II“ öffne sich der festgefügte Naturraum, es gebe Bereiche, die eben nicht nur Naturgesetzen unterliegen. Faust greife in die Natur ein, gestalte aktiv, mache sich aber schuldig. Und dennoch werde er gerettet. Hier lege Goethe sich nicht fest, biete Alternativen der Bewertung an.
Es handele sich um eine bedeutsame Phase der Entwicklung der Gesellschaft, hob Daniela Danz hervor. Goethe, stets allen Neuerungen aufgeschlossen, habe die Chancen der modernen Dampfmaschine erkannt, aber die breitere Einführung dieser Technologie nicht mehr erleben können. Mit seinem Interesse an progressiver Technik und seiner Skepsis in Bezug auf deren soziale Auswirkungen habe er am Beginn einer historischen Umwälzung gestanden, deren Konsequenzen aber nicht mehr zu beurteilen vermocht. Er sei tief religiös gewesen, nicht in einem kirchlichen Sinn, erinnerte Dirk von Petersdorff, aber mit der Vorstellung eines „allliebenden Gottes“ – abgeleitet von einem Naturverständnis aus spirituellen Quellen und Ideen.
… bei Eingriffen in die Natur
Er halte spätere Vertreter des „Nature Writing“ heute für besonders interessant, fügte Heinrich Detering hinzu. Goethe habe die Entwicklung noch nicht übersehen können. Aber er beobachtete genau die Vorgänge in Panama und bei Suez oder der Hafenbau-Projekte an der Weser. Sein Interesse für das moderne Transportwesen dokumentiert das Modell der Lokomotive „Rocket“ in seinen Sammlungen. Faust trete traditionell als Patron auf, sei faktisch aber moderner Unternehmer, der Arbeiter gegen Lohn für sich tätig werden lasse. Hier entfalte sich eine moderne Klassen- und Industriegesellschaft in ihrer frühen Version. Die Mechanisierung der Fabrikarbeit mit der Konstruktion maschineller Webstühle zeige die Entwicklung eines neuen Verhältnisses von Mensch und Natur. Daniela Danz führte aus, dass Akademiker um 1870 alte Herrschafts- und Besitzstrukturen ändern wollten zum Wohl der Fürsten und Unternehmer, während Goethe bis an sein Lebensende 1832 eher für die Beibehaltung tradierter Strukturen eintrat.
Einig war man sich auf dem Podium, dass es nicht sinnvoll sei, Goethe als einen frühen Vertreter aktueller Umweltbewegungen zu verstehen. Er betrachtete die Natur wissenschaftlich, respektierte ihre Erhabenheit, nahm ihre Bedrohung durch technische Entwicklungen zur Kenntnis, war 1832 aber noch weit davon entfernt, an Gefahren durch eine Klimaerwärmung denken zu müssen. Die Vorstellung grundlegender Veränderungen im Rahmen des Anthropozäns lag außerhalb seiner Erfahrungen und Überlegungen. Eine großflächige Verseuchung der Meere und Luft war für ihn nicht erkennbar. Goethe registrierte den Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien 1815 und erlebte die Natur auch als bedrohlich, aber eben nicht die Umwelt als existenziell bedroht durch menschlichen Einfluss. Sophie Reyer wies auf die Gefahren moderner Eingriffe in biologische Prozesse hin und zitierte Goethes Gespräch mit Eckermann vom 13. Februar 1829. Der überliefert Goethes Appell zu vorsichtigem und verantwortungsbewusstem Handeln: „die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.“




