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Neue Bücher, Veranstaltungen

Dialog und Disput – ein Tagungsband zu
„Schopenhauer in Goethes Weimar“

von Andreas Rumler

Weltweit fanden im Jahr 2018 Jubiläumsveranstaltungen statt, um an die erste Veröffentlichung von Arthur Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ zu erinnern. Immerhin wurde unter anderem in Brasilien, China und Japan dieses Ereignisses gedacht. So auch vom 27. bis zum 30. September im Festsaal des Goethe-Nationalmuseums in Weimar mit Referenten aus dem In- und Ausland, ausgerichtet von der Schopenhauer-Gesellschaft und der internationalen Goethe-Gesellschaft. Dieser Ort am Frauenplan bot sich deshalb geradezu an, weil Goethe hier in seinem Haus den jungen Schopenhauer an seinen Experimenten zur „Farbenlehre“ teilnehmen ließ.

Im Newsletter der Goethe-Gesellschaft und der „ALG-Umschau“ (dem Mitglieder-Magazin des Portals der literarischen Gesellschaften und Literaturmuseen) wurde ausführlich über diese Veranstaltung und die einzelnen Vorträge berichtet unter dem Titel: „Dialog zweier Disziplinen“:

Es habe sich sogar eher um ein „Kompaktseminar“ gehandelt als lediglich um eine Reihe von Vorlesungen, so formulierte es einer der Beteiligten anerkennend, weil die Teilnehmer auch selbst die Gelegenheit bekamen, wichtige Texte zu studieren und darüber zu diskutieren. Diese „konkrete Arbeit an Texten […] bezog sich auf die vier Seiten der Welt als Wille und Vorstellung, die Adele Schopenhauer ihrem Bruder in einem Brief nach Neapel nannte. Es handelt sich um vier Seiten des Hauptwerks: die Seiten 320–321 zum Thema ‚Metaphysik des Schönen‘ sowie die Seiten 440–441 zum Thema ‚Metaphysik der Sitten‘. Diese Seiten waren es, so berichtete Adele Schopenhauer ihrem Bruder nach Italien, die Goethe besonders angesprochen hätten. Über den Rest äußerte sich der ‚Einzige‘, wie er in Weimar genannt wurde, leider nicht oder nur sporadisch.“ (S. 9)

Einen ganz eigenen Zugang…

Die Konferenz war zudem noch multimedial angelegt, zu den Vorträgen wurden in Weimar Werke des Frankfurters Olaf Rademacher gezeigt. In dem Bericht konnte man nachlesen, der Künstler habe mit seinen Cartoons „einen ganz eigenen, heiteren Zugang“ gefunden (S. 9). Da auch ein Stadtrundgang auf den Spuren der Protagonisten angeboten wurde, die Teilnehmer den Hörsaal verließen, darf man konstatieren, hier sei der Versuch gelungen, Schopenhauer auch außerhalb akademischer Zirkel der Philosophie und Germanistik bekannt zu machen. Das belegten auch die lebhaften Diskussionen nach den Vorträgen und in den Pausen.

Jetzt ist endlich („gut Ding …“, man kennt es) ein umfassender Sammelband mit den wichtigsten Beiträgen der Konferenz erschienen, herausgegeben von Thomas Regehly: „Schopenhauer in Goethes Weimar. ‚Ob nicht Natur zuletzt sich doch ergründe …?‘“ Hilfreich ist, die damals wie am Fließband genossenen Ausführungen nun in Ruhe nachvollziehen zu können. Es handelt sich um Betrachtungen, die nicht nur für Anhänger Goethes und Schopenhauers lesenswert bleiben, weil hier grundsätzliche Fragen der Erkenntnis und ihrer Reflexion erörtert werden; stets freilich ausgehend von den beiden Denkern. Etwa wenn Helmut Hühn in seiner Zusammenfassung formuliert: „Aber anders als in Goethes Naturforschung, wo die Morphologie ausdrücklich als Verwandlungslehre gefasst wird, bestimmt sie Schopenhauer als Beschreibung der beim unaufhörlichen Wechsel der Individuen ‚bleibenden Formen‘. Schopenhauer restituiert noch einmal die zeitstabile eidetische Form, die Goethe in die dynamische endogene überführt.“ (S. 49) Und aus der Distanz zeigt sich ebenso, dass diese Vorträge nicht nur aufgrund des damaligen Jubiläums Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen.

…nicht nur anlässlich des Jubiläums

Das Buch folgt im Wesentlichen der Abfolge der Vorträge. Die Verbindung zwischen Goethe und Schopenhauer hatte eine private und eine wissenschaftliche Komponente. Als junge Witwe war Johanna Schopenhauer nach Weimar gekommen und empfing in ihrem Salon dessen Koryphäen. Wert legte sie auf eine ungezwungene Atmosphäre fern von höfischer Etikette, man plauderte ohne Rücksicht auf Standesschranken über zentrale Fragen der Politik und Kultur. Besonders wichtig dürfte Goethe gewesen sein, dass Johanna Schopenhauer die lange von der Weimarer Gesellschaft verachtete Christiane – inzwischen „von Goethe“ – freundschaftlich in ihre Runde aufnahm und ihr die berühmte „Tasse Thee“ nicht verweigern mochte. Vor allem aber begegneten Goethe und Schopenhauer sich hier, lernten sich kennen und soweit schätzen, dass Schopenhauer an Goethes Studien teilnehmen durfte.

In 4 Teilbereiche ist der Band gegliedert: „Schopenhauers Hauptwerk und die Weimarer Salonkultur“ (S. 22–79), „Schopenhauers Hauptwerk und die erste Italienreise“ (S. 72–160), „Materialien“ (S. 162–292) und „Dokumentation“ (S. 294–306) und einen „Anhang“ (S. 309–327). Die Referate der beiden ersten Teile wurden am 28. und 29. September 2018 vorgetragen.

Fast gleichzeitig mit Schopenhauers Hauptwerk erschien 1819 die erste (1827 erweiterte) Fassung von Goethes Zyklus „West-östlicher Divan“, Schopenhauer studierte die Sammlung der Gedichte intensiv. Besonders die zahlreichen Abbildungen zum Verständnis der Experimente der „Farbenlehre“ sowie aus Goethes „West-östlichem Divan“ und Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ mit Anstreichungen und Marginalien der beiden Leser zeugen von der Intensität des gegenseitigen Interesses. Deshalb ist es sinnvoll, diese Dokumente jetzt noch einmal in Ruhe studieren zu können.

Handhabbar portioniert  

Abgedruckt ist auch Adele Schopenhauers Brief an den Bruder nach Neapel vom Anfang 1819. Darin teilt sie ihm entzückt mit: „Goethe empfing es [das Werk] mit großer Freude, zerschnitt gleich das ganze dicke Buch in zwei Theile und fing augenblicklich an, darin zu lesen. Nach Stunde sandte er mir beiliegenden Zettel und ließ sagen: Er danke Dir sehr and glaube daß das ganze Buch gut sei. Weil er immer das Glück habe, in Büchern die bedeutendsten Stellen aufzuschlagen, so habe er denn die bezeichneten Seiten gelesen und große Freude daran gehabt. Darum sende er die Nummern, daß Du nachsehen könnest was er meine. Bald gedenkt er Dir selber weitläufiger seine Herzensmeinung zu schreiben; bis dahin solle ich Dir dies melden.“ (S. 309) Dazu kam es offenbar nicht mehr, überliefert ist ebenfalls nicht, was der stolze Autor davon hielt, dass Goethe sein Werk handhabbar in Lesehäppchen portionierte. Aber die Einbeziehung von Szenen wie dieser, in denen es erkennbar menschelt, hilft stärker, die Familien Schopenhauer und Goethe sowie letztlich auch die Gedanken der beiden Genies bekannt zu machen, als manche gelehrte Abhandlung in ihrer Fachsprache. 

Dialoge und – bisweilen auch – Dispute wie diese zweier prägender Geistesgrößen mit weltweitem Echo helfen uns, Kern-Probleme von globalem Interesse besser verstehen und diskutieren zu können. Denn letztlich ist die für Schopenhauer zentrale Frage Goethes: „Ob nicht Natur zuletzt sich doch ergründe …?“ bis heute nicht beantwortet. Dabei gewinnt sie sogar noch an Aktualität, wie die Auseinandersetzungen um die Klima-Krise und damit um die weitere Existenz des Menschen auf diesem Planeten beweisen. Bücher wie dieser Sammelband tragen dazu bei, die Relevanz von Goethes Diktum und Schopenhauers Hauptwerk nicht aus den Augen zu verlieren. Dank gilt deshalb dem Herausgeber Thomas Regehly, dass er die Geduld nicht verlor und unermüdlich an seinem Ziel festhielt, diese sehr ergiebige Konferenz in Weimar angemessen zu dokumentieren.

(c) Edition Faust

Thomas Regehly (Hrsg.)

Schopenhauer in Goethes Weimar – „Ob nicht Natur zuletzt sich doch ergründe …?“

Frankfurt am Main 2023
Hardcover, ca. 330 Seiten
ISBN 978-3-949774-19-5

Preis: 38,00 €


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