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„Rom am Nesenbach“ – Andrea Hahn schreibt über „Goethe in Schwaben“

von Andreas Rumler

Goethe war eine reisefreudige Natur. Rund 40.000 Kilometer legte er zu Fuß, reitend oder in Kutschen zurück. Damals war es mühsam und gefährlich zu reisen. Schlecht waren die Wege, Kutschen boten ganz anderen Komfort als moderne Autos und kaum Sicherheit, Wegelagerer lauerten im Dunkel der Nacht. Dennoch nahm Goethe dieses Abenteuer gern auf sich. Um Kontakte zu pflegen und vor allem zu Bildungszwecken. Natürlich auch, um sich zu erholen: in böhmischen und anderen Bädern. Seine „Italienische Reise“ dürfte das bekannteste und beliebteste autobiografische Werk dieser Art in der deutschen Literatur sein.

Auf diesen Bestseller spielt Andrea Hahn mit ihrem Untertitel an: „Wer braucht da noch Italien?“ in ihrer Darstellung: „Goethe in Schwaben“. Eine kühne Behauptung! Klar, wer viel reist innerhalb des deutschen Sprachraums, kommt irgendwann durch oder nach Schwaben. Goethe zwangsläufig auch. Wobei der Band mit dem Begriff „Schwaben“ wohl bewusst etwas ungenau betitelt ist: Schwaben umschreibt vage einen Raum, der gefühlt besteht, weniger streng geografisch, der eher geistig, kulinarisch, durch streng gewissenhafte Vermeidung überflüssiger Ausgaben und, kaum zu überhören, mundartlich geprägt ist.

Heines Waldlied

Man denkt an Ludwig Uhland und die heimelige „Schwäbische Romantik“, vor allem aber an Heinrich Heines charmante Charakteristik gerade auch im Kontrast zu dem Weimarer Dichterfürsten aus dem „Sommernachtstraum“ – wie der Autor schrieb: „das letzte / Freie Waldlied der Romantik“ – man denkt an: „Atta Troll“: „… Ach, entschuld’gen / Sie, Madame! bin kein frivoler / Goetheaner, ich gehöre / zu der Dichterschule Schwabens. // Sittlichkeit ist unsre Muse, / Und sie trägt vom dicksten Leder / Unterhosen! – Ach! Vergreifen / Sie sich nicht an meiner Tugend! // Andre Dichter haben Geist, / Andre Phantasie, und andre / Leidenschaft, jedoch die Tugend / Haben wir, die Schwabendichter.“ Freilich kamen aus Schwaben immerhin auch Schiller und Hölderlin oder Hegel und Schelling. Ansonsten: Auch ich oute mich gern, ein Fan von „Mauldäschle“ und Zwiebelkuchen oder Gaisburger Marsch zu sein, während meines Studiums in Tübingen ein eigenes Mostfass im Keller besessen zu haben. Mein Ländle lob‘ ich mir. Zu Goethes Zeit entwickelte Württemberg sich vom Herzogtum zum Königreich und konnte sein Terrain vergrößern. Legion sind Berichte über preisbewusste schwäbische Hausväter. Und über Schillers schwäbische Mundart sind bezaubernde Anekdoten im Umlauf.

Ja, Goethe hat das heutige Baden-Württembergs sogar zwei Mal besucht: 1779 und 1797. Leider ist über beide Aufenthalte aber recht wenig bekannt. Es gibt Briefe und Tagebücher, von Goethe selbst und Zeitgenossen, die er trifft, aber keine ausführliche eigene Schilderung wie über andere Reisen. Bei seiner ersten, gemeinsam mit Carl August, begegnet er in der Hohen Karlsschule sogar dem jungen Schiller, gegen seinen Willen ist der in die schwäbische Kadettenanstalt und Militärakademie zwangsweise versetzt worden. Sein Landesvater von Gottes Gnaden kennt kein Pardon, verkauft Landeskinder als Soldaten, um seine Schlösser zu finanzieren; er kerkert den Dichter und Musiker Christian Friedrich Daniel Schubart ohne jedes Gerichtsurteil 10 Jahre ein. Während Goethe seinen späteren Freund wohl kaum wahrgenommen haben dürfte, wird der ehrfurchtsvoll den berühmten Dichter bewundert haben, als der die Militärakademie besucht. In offizieller Mission sind er und der Herzog unterwegs, obwohl sie pro forma inkognito reisen, Höfe adeliger Kollegen Carl Augusts und standesgemäße Bälle, Jagden und andere Veranstaltungen besuchen.

„Hauch des Südens“

Auf dem Weg zu einem neuerlichen Besuch Italiens kommt Goethe wieder unter anderem nach Stuttgart, Tübingen und Heilbronn, wo ihn „der Hauch des Südens“ anweht, wie Andrea Hahn schreibt (S. 71). Weil Goethe in Weimar auch am Neubau des Stadtschlosses beteiligt ist – kurz vor seinem Eintreffen war die alte Wilhelmsburg abgebrannt – besichtigt er Schlösser in Ludwigsburg, Stuttgart und Hohenheim, um Anregungen zu gewinnen oder vielleicht sogar den einen oder anderen Mitarbeiter oder Künstler abzuwerben.

Freilich begeistert ihn nicht besonders, was er in Stuttgarts Schloss sehen muss: „nichts nachahmenswertes …, vielmehr unzählige Beispiele dessen was man vermeiden soll“ (S. 89). Ähnlich urteilt er über Schloss und Park Hohenheim: „Man kann beym äußern Anblick der Gebäude sagen, daß sie in gar keinem Geschmack gebaut sind, indem sie nicht die geringste Empfindung weder der Neigung noch des Widerwillens im Ganzen erregen; eher ist das völlig Charakterlose einer bloßen beynah nur handwerksmäßigen Bauart auffallend“ (S. 92).

Immerhin lernt er in Stuttgart – für Andrea Hahn: „Rom am Nesenbach“ (so der Titel des Kapitels), einem „heute längst verdohlten Bächlein, an dem Stuttgarts Keimzelle gelegen hatte“ (S. 113) – zwei Künstler kennen, die er nach Weimar locken will: Antonio Isopi und Nikolaus Friedrich Thouret. Allein, das gelingt nur bedingt und auf Zeit. Dafür stellen sie für Goethe „eine direkte Verbindung nach Rom dar“ (S. 119). Enger wird sein Kontakt mit dem Bildhauer Johann Friedrich Dannecker und dem Kaufmann Gottlob Heinrich Rapp. Mit ihnen freundet er sich an, man wird später Briefe wechseln. Im Haus der Familie Rapp liest er aus dem noch unveröffentlichten Epos „Hermann und Dorothea“ vor. Als eine kleine Tochter das Zimmer verlassen soll, um nicht zu stören, bittet Goethe darum, sie nicht fortzuschicken. Tatsächlich verhält sie sich ruhig und Goethe vernimmt am Ende wohl eines der nettesten Komplimente: „Dr Ma soll noch meh läsa“ – so jedenfalls die mundartliche Variante der in Schwaben gern kolportierten Legende (S. 130).

Die nächste Station ist Tübingen, Freund Schiller hat ihn bei seinem Verleger in der Münzgasse 15 annonciert, beide vereinbarten bereits die Herausgabe der „Horen“ und Johann Friedrich Cotta möchte den berühmten Autor für seinen Verlag gewinnen. Hinzu kommt jetzt die Abmachung, die „Propyläen“ herauszugeben. Auch Tübingen überzeugt Goethe nur mäßig: „die Stadt selbst ist abscheulich“, in der unteren Stadt seien „die Straßen … von dem vielen Mist äußerst unsauber“ (S. 136), Andrea Hahn hat das Kapitel „Rom rückt in die Ferne“ (S. 135) genannt. Die Universität enttäuscht Goethe. An Carl August schreibt er: „Die Academie ist hier sehr schwach … die alte Form widerspricht jedem fortschreitendem Leben …“ (S. 143). Dafür begeistern ihn die Fenster der gegenüberliegenden Stiftskirche. Er würdigt die bunten Chorfenster des Straßburger Meisters Peter Hemmel von Andlau aus dem Jahr 1475 in seinem Aufsatz „Über Glasmalerei“. Und besucht verschiedene Professoren und andere Honoratioren. 

Auf seiner Tour gelangt Goethe auch nach Balingen, die Stadt erinnert ihn an Tübingen: „Der Ort selbst wäre nicht übel … aber die Nachbarn haben ihre Misthaufen in der Mitte der Straße am Bach, in den alle Jauche läuft und woraus doch gewaschen und zu manchen Bedürfnissen unmittelbar geschöpft wurde“ (S. 146). Geplant hatte Goethe eine längere Reise, in die Schweiz und nach Italien sollte sie ihn führen. Wegen der politischen Situation, Napoleon und die Kriegswirren dräuen am Horizont, bricht er sie ab und reist heim. 

Schwaben war aus gutem Grund sicher keines der favorisierten Reiseziele Goethes. Verglichen mit anderen Aufenthalten wie entlang des Rheins und Mains hat er weniger Zeugnisse hinterlassen, keine literarische Darstellung verfasst. Schiller kam zwar aus Marbach und hatte unfreiwillig die Hohe Karlsschule absolvieren müssen, lebte aber sicherheitshalber in Weimar im Exil. Hölderlins Bedeutung hat Goethe unterschätzt. Wichtig war der Kontakt zu Cotta. Deshalb erfährt man im Buch mehr über Schwaben als über Goethe, und eine ganze Menge über verschiedene schwäbische Geistesgrößen. Falsch ist die leider doppelte Charakterisierung von Johann Peter Eckermann als „Sekretär“ Goethes (S. 70, S. 98). Das wird seiner Bedeutung für und seinem Verhältnis zu Goethe nicht gerecht. Insgesamt ist es ein recht hübsches Buch mit einer Reihe von Schwarz-Weiß-Abbildungen geworden, süffig zu lesen; es belegt, dass auch Italien seine Reize hat, nicht nur Schwaben. Freilich verbindet beide Länder die Vorliebe für Noodle oder Pasta-Gerichte.

(c) 8 grad verlag

Andrea Hahn
Goethe in Schwaben. Wer braucht da noch Italien?

Freiburg 2023
172 Seiten
ISBN 978-3-910228-08-5

Preis: 24,00 €


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