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Ein bunter Parcours: Goethe auf der documenta

von Jochen Golz

Die Goethe-Rezeption in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts ist ein reizvolles, jedoch erst in Ansätzen erschlossenes Gebiet der Forschung. Zwar fallen dem Kundigen sogleich Namen wie Käthe Kollwitz und Max Beckmann ein, doch ebenso rasch denkt man an ein Zitat aus Brechts „Dreigroschenfilm“: „Doch die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht. / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Dabei heben sich aus solchem Dunkel Künstlerpersönlichkeiten heraus, die es ins Licht zu holen gilt. Kollwitz und Beckmann gehören in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte haben sich indes Maler, Graphiker, Illustratoren, Anwälte moderner Medien nicht weniger intensiv mit Goethe auseinandergesetzt. So ist die Frage legitim, inwiefern sich in einer alle fünf Jahre stattfindenden Leistungsschau der Kunst aus aller Welt wie der Kasseler documenta Goethes Einfluss bemerkbar macht, anders gefragt: „Wieviel Goethe steckt also in der documenta?“ (S. 9). Ein natürliches Anrecht, diese Frage zu stellen und Antworten zu suchen, kommt der Goethe-Gesellschaft in Kassel zu, deren Schriftenreihe sich ohnedies durch thematische Originalität auszeichnet. Auch mit ihrer Jahresgabe 2020 ist ihr etwas Bemerkenswertes gelungen.

Gelungen ist schon der Einstand des Autors Harald Kimpel, der sich als memorierender Goethe-Darsteller in einem Film von Albert Serra in Text und Bild präsentiert; aufgeführt wurde das „monumentale Werk“ (S. 4) auf der documenta 13, danach noch in Paris, London und Berlin. Mit sympathischer Selbstironie zitiert der Autor eine Co-Kuratorin, die das Ganze „megaloman“ und „verrückt“ nannte. Dann aber wird es kunsthistorisch seriös. Offenkundig war die documenta 2 (1959) nicht zuletzt als Blick in die jüngere Vergangenheit angelegt. Denn gezeigt wurden damals sowohl Max Beckmanns kongeniale Radierungen zu „Faust II“ als auch 10 Druckgraphiken von Willi Baumeister zu „Faust“ und 8 Farblithographien von Henry Moore zu Goethes „Prometheus“-Fragment (in der Übersetzung von André Gide). Von Henry Moore existiert außerdem ein Skizzenbuch zu diesem Komplex mit ca. 80 Bleistiftstudien. Glücklicherweise hat die Kasseler Goethe-Gesellschaft die Kosten für einen Bildteil nicht gescheut, der uns zu jedem Künstler einzelne Blätter vor Augen führt.

Sehe ich es richtig, dann war das documenta-Jahr 1959, was den Reichtum an Goethe-Themen angeht, ein einsamer Höhepunkt. Für 1977 notiert Kimpel die Ausstellung der Handzeichnung (Bleistift und Farbstift) „Die Werthergesellschaft“ von Horst Janssen; sie ist allerdings keine originale Schöpfung im eigentlichen Sinne, sondern die Adaption einer Federzeichnung von Max Klinger (in der bildlichen Gegenüberstellung beider Blätter gut nachzuvollziehen). Noch einmal kehrt Goethe an den Schauplatz des Geschehens dominant zurück, natürlich im Goethe-Jahr 1982, diesmal jedoch nicht mit einer Fülle von Bildern, sondern, wie Kimpel anmerkt, als konzeptueller „Schutzheiliger“ (S. 22), dessen Aufsatz „Über den Granit“ Eingang in das Katalogbuch findet. Das von Goethe in seinem Text intendierte natürliche Ordnungsprinzip wird zum Ordnungskonzept der documenta, so dass Kimpels Urteil nicht übertrieben scheint, diese documenta habe „im Zeichen Goethes“ gestanden. Von den damals gezeigten Kunstwerken hebt der Autor das Gemälde „Sternbild des Löwen“ von Carlo Maria Mariani heraus, das er selbst einen „Maskenball in Arkadien“ nennt und mit ironischer Verve im Einzelnen erläutert. Wenn man die Abbildung genau betrachtet, ist sogar der Stein des guten Glücks aus Goethes Garten auf dem Bild – mit seinen in historische Kostüme gehüllten Figuren – zu entdecken. Mariani hat sich selbst als „Sohn“ des „olympischen Goethe“ definiert. Wer hätte heute noch die Chuzpe, das von sich zu sagen.

In den folgenden lustralen Kunstereignissen zieht sich Goethe mehr ins Verborgene zurück, gerät er zugleich stärker in den Wirbel der modernen Medien. 1987 ist ein Farbvideo „Damnation of Faust“ von Dara Birnbaum zu sehen – Kimpel bilanziert das Werk unter der Rubrik „Irrlichternde Medien“ (S 31) –, und die darauffolgende documenta stellt Kimpel unter das Stichwort „Wahrnehmungsverhinderung“ (S. 32). Fünf Jahre später ist davon glücklicherweise nicht die Rede. Dann inszeniert Hans Jürgen Syberberg, ein „Kulturpessimist von Format“, mit „Cave of Memory“ einen „monumentalen Abgesang auf die deutsche Hochkultur“, in den als eine Stimme unter vielen Einar Schleefs „Faust“-Inszenierung „inkorporiert“ ist (S. 36). 2002 installiert der „Typosoph“ Ecke Bonk ein „buch der wörter“ (das Wörterbuch der Brüder Grimm digital), in dem Goethe als häufig zitierter Beleglieferant nicht fehlen darf. Fünf Jahre darauf stellt der Moskauer Künstler Andrei Monastyrski die Installation „Goethe“ aus, deren Beschaffenheit und der dazugehörige Kommentar ihres Erfinders Rätsel aufgeben. In leichtem Ton, der überhaupt sein Markenzeichen ist, liefert Kimpel dazu einen ironischen Begleittext. Ernst wird es noch einmal gegen Ende des Büchleins, wenn von einem „Parthenon of Books“ die Rede ist, den Marta Minujin zur documenta 14 auf dem Friedrichsplatz in Kassel nachbauen ließ. In diesem Denkmal verbotener Bücher waren auch Werke von Goethe zu finden, die – wie „Werther“ und selbst „Faust“ – Opfer der Zensur geworden waren.

Ein kleines Resümee zieht Kimpel auf der letzten Seite (S. 45), indem er Adam Szymczyk, den Kurator der letzten documenta, zu Wort kommen lässt. Dessen Aussagen deutet er „als Teil eines Weltbeglückungsrezepts“, als „Prototyp der (keineswegs von ihm erfundenen) Idee der Überwindung nationalstaatlicher Zwangskonstrukte in einer das Individuum ermächtigenden Gemeinschaft. Dem Weltbürger und Weltliteraten Goethe hätte diese Vorstellung wahrscheinlich sogar gefallen.“ Im Blick auf die hier gezeigten documenta-Werke zu Goethe-Themen kann man dem nur beipflichten.In der schlüssigen, erhellenden Zuordnung von Text und Bild ist der Goethe-Gesellschaft Kassel ein schönes Bändchen gelungen. Wer sich für dieses Thema interessiert, sollte mit dem Kauf nicht zögern.

Harald Kimpel
„Die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen“
Goethe auf der documenta
Schriften der Goethe-Gesellschaft Kassel
Im Auftrag des Vorstandes herausgegeben von Maja Knackstedt, Tobias Leiß und Stefan Grosche
Jahresgabe 2020

Jenior Verlag Kassel
48 S.
ISBN: 978-3-95978-085-8

Preis: 15,00 €

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 4/2020.


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