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Blicke auf Goethes „Faust“

von Jochen Golz

Faust im Studierzimmer, Gemälde von Georg Friedrich Kersting, 1829 (Ausschnitt)

Unter den deutschen Ortsvereinigungen der Goethe-Gesellschaft nimmt die Hamburger, 1924 gegründet, in einer Hinsicht eine Ausnahmestellung ein. Seit 1998 führt sie an einem Herbstwochenende zweitägige Klassik-Seminare durch; das 18. fand am 15. und 16. November 2019 statt; die damals gehaltenen Vorträge sind jetzt als Jahresgabe der Gesellschaft für 2020 nachzulesen.

Was gibt dieser Veranstaltungsreihe ihren besonderen Charakter? Der Umstand vor allem, dass ihr Publikum sich nicht nur aus Mitgliedern und Gästen der Hamburger Gesellschaft zusammensetzt, sondern auch Hamburger Pädagogen offensteht; auf diese richtet sich das besondere Augenmerk. Seit 2005 arbeitet man mit dem Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung zusammen. Das hat der Reihe thematische Kontinuität und ein großes, stabiles Publikum verschafft – ein Verdienst insbesondere der Hamburger Vorsitzenden Ragnhild Flechsig. Aus den vorliegenden Jahresgaben lässt sich unschwer ein Konzept der Seminare ableiten. Es werden Themen gewählt, die sowohl Bezug nehmen auf aktuelle Forschungstendenzen als auch auf Belange der pädagogischen Praxis.

Dass in einer solchen Reihe „Faust“ nicht fehlen kann, versteht sich beinahe von selbst. Wie kein zweites literarisches Zeugnis der Vergangenheit steht Goethes Stück immer wieder im Brennpunkt der Forschung, entzünden sich an seiner Interpretation, ob in der Wissenschaft, im Theater oder im Film, aktuelle Debatten über Lebensprobleme in unserer modernen Welt. Einen aktuellen Zugang haben auch die Organisatoren des Hamburger Seminars gesucht und Referenten eingeladen, die unterschiedliche Zugänge zu „Faust“ erwarten ließen.

Von kontroversen Aspekten wusste sich Thorsten Valk wohltuend frei zu halten; unter dem Titel „Margarete singt“ behandelte er „Szenen aus Goethes ‚Faust‘ in Vertonungen von Franz Schubert, Richard Wagner und Hector Berlioz“. Für dieses Thema hat Valk – als wissenschaftlicher Autor wie als Kurator der herausragenden „Faust“-Ausstellung in München – ein gutes Fundament gelegt; seit kurzem ist er Direktor des Rheinischen Landesmuseums für Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte in Bonn. Einen Schwerpunkt seines Vortrags bildete die musikalische „Faust“-Rezeption in Frankreich, angeregt durch Gérard de Nervals Übersetzung von „Faust I“. Dass französische „Faust“-Vertonungen in Deutschland selten auf Gegenliebe stießen, weil bornierte nationalpatriotische Goethe-Verehrer sie oft als Denkmalbeschädigung ansahen, verschweigt Valk nicht. Knapp und erhellend beschreibt er Goethes Rolle im deutschen Kunstlied und in der Musik von Berlioz. Beispielhaft seine Analyse von Schuberts „Meine Ruh ist hin …“, seine wegweisenden Beobachtungen zu Wagners „Faust“-Vertonungen und ihre Affinität zu Schubert. Dem Hamburger Seminar war ein schöner Auftakt beschieden.

Einen ganz anderen Weg schlug Philipp Restetzki ein, der in Görlitz als Gymnasiallehrer tätig ist. Er wiederholte einen Vortrag, den er unter dem Titel „‘Der Schlüssel zu Fausts Rettung‘. Streben und Liebe als spinozistische Motive in den Faust-Szenen ‚Prolog im Himmel‘ und ‚Bergschluchten‘“ 2015 auf dem Symposium junger Goethe-Forscher im Rahmen der Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar gehalten hatte (nachzulesen im Goethe-Jahrbuch 2016, S. 40-48), gab ihm aber unter dem Titel „Dressierte Geister“ dergestalt einen neuen Rahmen, als er die eigenen Darlegungen als „Beispiel eines Fachvortrags“ deklarierte, der zur Verständigung über die Behandlung von „Faust“ im Unterricht dienen sollte. Der Titel seines Symposiums-Vortrags gibt bereits die Kernaussage seines Vortrags zu erkennen. Ausgehend von der in der aktuellen „Faust“-Forschung allgemein akzeptierten Auffassung von einem thematischen Bogen zwischen „Prolog im Himmel“ und der Szene „Bergschluchten“, hebt Restetzki die Spinoza-Bezüge in der Gesamtanlage der Dichtung heraus und geht im Schlussteil der Frage nach, ob die drei Erkenntnisgattungen in Spinozas „Ethik“ unmittelbaren Eingang in die Schlussszene gefunden haben. Manche gute Beobachtung entspringt Restetzkis genauer vergleichender Lektüre, wenngleich die These, in der Szene „Bergschluchten“ sei Spinozas System „motivisch funktionalisiert“ worden (S. 39 f.), den Bogen wohl überspannt. Ob Goethe tatsächlich, wie Restetzki annimmt, Spinozas „Ethik“ – Objekt von Goethes lebenslanger geistiger Auseinandersetzung – in den letzten Lebensjahren speziell im Hinblick auf „Faust“ gelesen hat, ist schwer zu beweisen; diese Lektüre hätte auch für Goethes naturwissenschaftliche Beschäftigung gleichermaßen Bedeutung haben können. So intensiv Restetzki sich mit speziellen Aspekten der „Faust“-Forschung auseinandersetzt, so knapp und allgemein fallen seine Anmerkungen zur Behandlung des „Faust“ in der Schule aus. Sie reduzieren sich auf die Aussage – der man nur beipflichten kann –, dass der Lehrende immer auch ein Lernender sein solle, und auf die Empfehlung, im Unterricht „Szenen mehrfach unter verschiedenen Gesichtspunkten zu lesen“ (S. 35). Hier hätte ein stärkerer Bezug auf die eigene pädagogische Praxis als Lehrender dem Fachpublikum Anregungen auch zur Diskussion geben können.

Liegt Restetzkis Studie die Auffassung von Goethes spinozistischem Weltverständnis zugrunde, dem zufolge das Göttliche in der Natur zu Anschauung und Wirkung gelange, so sucht der Berliner Germanist Tim Lörke einen Zugang zum „Faust“ eher unter theologischem Aspekt. Lörke beginnt mit der paradoxen Beobachtung, dass im „Prolog im Himmel“ das Stück eigentlich schon an sein Ende gelange, die Szene „Bergschluchten“ die Anfangssituation im Grunde nur perpetuiere; Lörke liest beide Texte im Sinne einer „eschatologischen Verschränkung“ (S. 39). Während Jochen Schmidt und auch der auf Lörke folgende Referent Michael Jaeger Mephisto als Teil der Faust-Figur deuten – was mich persönlich überzeugt –, ist Mephisto für Lörke im Rahmen eines „Heilsplans“ „Teil Gottes und der Schöpfung“ (S. 44). So erweist sich für Lörke der Gott des „Prologs“ als leitende und richtende Instanz, nicht als Spielfigur in einem von den Erzengeln besungenen Naturgeschehen. Ein absolut gesetzter Gott, so Lörke, sei „schlichtweg nicht interessiert am Leben des Menschen auf Erden“ (S. 46), im Drama werde „vor allem die notwendige Beschränktheit aller möglichen menschlichen Aussagen über Gott“ vor Augen geführt (S. 51). Die Himmelfahrtsszene am Schluss sei „als ästhetische Veranschaulichung eines eigentlich nicht zu sagenden Vorgangs, als Explikation einer „erkenntnistheoretischen, gleichsam negativen Theologie“ anzusehen (S. 53). Lörke polemisiert – mit Grund – gegen eine traditionelle christlich-theologische Auslegung des „Faust“, aber er setzt an die Stelle einer älteren tradierten eine moderne theologische Interpretation; er arbeitet mit den aus christlichem Verständnis substantiellen Begriffen wie Schöpfung, Sünde und Gnade, die im Zusammenhang mit Goethes spezifischer Religiosität ihre im Christentum geläufige Bedeutung einbüßen, im „Faust“ ästhetisch funktionalisiert und ironisch relativiert werden.

Ironie ist denn auch das Signal, auf das der glänzend formulierte Text des Berliner Germanisten Michael Jaeger am Ende zusteuert; Ironie lasse das Drama „aktuell und zeitgenössisch erscheinen“ (S. 77). Auch Jaeger teilt die Auffassung von der thematischen Klammer zwischen „Prolog“ und „Bergschluchten“; ungleich entschiedener als die anderen Vortragenden situiert er Goethes „Faust“ in der beginnenden Moderne und kann auf diese Weise Verbindungen zur historischen Gegenwart knüpfen. Faust, so Jaeger, protestiere in der Wettszene „gegen die Realität als solche“ (S. 66), aus dem in der Wettszene formulierten „Verbot des Verweilens“ gehe „ein Kult der Geschwindigkeit“ hervor, „ein Kult der rastlosen Innovation, des permanenten Bild- und Sensationswechsels“ (S. 66). „Unruhe“ laute „das Schlüsselwort für die Tragödie“ (S. 65). Faust versuche, „seine Todesangst vor dem Verweilen durch die Negation des augenblicklich Seienden zu verdrängen“ (S. 67). Diesem Gedanken gibt Jaeger dergestalt einen großen historischen, individuelles Streben überformenden Gehalt, als er das Prinzip der Negation zur „Triebkraft der modernen Fortschrittsidee“ (S. 68) erklärt, wie sie sich in den politischen wie ökonomischen Revolutionen der Moderne manifestiere. In dreierlei Hinsicht (in Stichworten: Papiergeld, Homunculus, Fausts Kolonie) habe Goethe das Projekt der Moderne im zweiten Teil des „Faust“ ästhetisch gespiegelt. In seinem Schlussmonolog entwerfe Faust „das große Emanzipationsprojekt der Moderne“ (S. 76), doch sei dieses Bild von „ungeheuerlicher Ironie“ (S. 77). Fausts „neue, von Menschenhand reproduzierte Welt“ (S. 76) könne uns heute auch im dezidiert modernekritischen Licht einer „Emanzipation des Menschengeschlechts von der Erde“ (eine bei Hannah Ahrendt überlieferte, hier S. 76 zitierte Formulierung) mit all ihren unheilvollen Folgen erscheinen. Hannah Arendt folgend, deutet Jaeger das „Ewig-Weibliche“ als „Mutter alles Lebendigen“ (S. 77); Liebe, so würde ich hinzusetzen, als bewegende Kraft alles individuellen wie überindividuellen Geschehens. 

Jaeger – in meinen Augen der gegenwärtig kenntnisreichste und klügste „Faust“-Interpret – kann sich auf seine drei Bücher zu Goethes Drama beziehen, weiß aber seiner aktuellen Darlegung auch einige neue Aspekte hinzuzufügen. Man darf annehmen, dass seine Beschäftigung mit „Faust“ noch nicht an ihr Ende gelangt ist.

Lohnend und ertragreich ist die Lektüre aller hier vorgelegten Texte, deren Vortrag gewiss auch unter den Zuhörern große Resonanz gefunden hat. Nützlich wäre es – dies sei als kleiner Wunsch angemerkt –, wenn künftigen Bänden kurze Auskünfte über die Referenten hinzugefügt würden. Insgesamt aber ist der Hamburger Goethe-Gesellschaft nur ein weiteres Voranschreiten auf dem einmal eingeschlagenen Weg zu wünschen. Wer sich über aktuelle Aspekte der „Faust“-Interpretation knapp und konzis informieren möchte, sollte zu dem Bändchen greifen.

Johann Wolfgang Goethe
Faust
Hrsg. von der Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar e. V., Jahresgabe 2020

Verlag Janos Stekovics Wettin-Löbejün OT Dößel (Saalekreis)
81 S.
ISBN: 978-3-89923-417-6

Preis:  14,80 €

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 5/2020.


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