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Goethe-Botschaften aus dem fernen Georgien – Zum jüngsten Schriftenband der Goethe-Gesellschaft Kutaissi
So fern und doch so nah – in besonderer Weise trifft diese Alltagsweisheit für die Goethe-Freunde im kaukasischen Georgien zu, die sich in der Universitätsstadt Kutaissi, etwa in der Mitte des Landes gelegen, zu einer Ortsvereinigung zusammengefunden haben und regelmäßig durch Publikationen auf sich aufmerksam machen. Jüngst erschien Band 17 ihrer Schriftenreihe, herausgegeben von Nanuli Kakauridze und Giorgi Chincharauli. Die hier veröffentlichten Texte gehen auf Vorträge zurück, die im Rahmen der Goethe-Tage 2024 in Kutaissi gehalten worden sind.
Ein thematischer Schwerpunkt erschien 2024 beinahe unausweichlich. Vor 250 Jahren kam zum ersten Mal Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ heraus, dessen Erscheinen den jungen Autor mit einem Schlag berühmt machte. Dieser Ruhm blieb nicht auf Deutschland beschränkt, er weitete sich auf Europa aus und drang bis nach Asien vor; in 64 Sprachen, so hält eine Autorin des vorliegenden Bandes fest, sei der Roman übersetzt worden. Was lag in Kutaissi also näher, als sich diesem Text aus verschiedenen Perspektiven anzunähern. Dass sich das tatsächlich produktiv vollzogen hat, spricht für die Solidität und den hohen Stand wissenschaftlicher Reflexion in der georgischen Universitätsstadt.
Den Auftakt bildet ein Beitrag von Nugescha Gagnidse über „Goethes Werther in der georgischen Literaturkritik“. Dreimal bereits ist der „Werther“ ins Georgische übersetzt worden; allerdings sind ältere Übersetzungen nicht immer zuverlässig, lassen Partien aus, fügen neue, vom Übersetzer erfundene hinzu. Den Übersetzern lag mehr daran, den Geist des Werkes zu vermitteln, philologische Treue war nicht unbedingt ihr Ziel; erst die jüngste Übersetzung wird diesem Anspruch gerecht, ohne dem Ursprungstext Gewalt anzutun. In diesem Sinne urteilten auch georgische Germanisten, deren Gutachten hier herangezogen werden; sie übernehmen damit eine Aufgabe, die einem deutschen Germanisten unerreichbar ist, müsste er doch zu diesem Behuf das Georgische erlernen. Besonders wertvoll, das sei angemerkt, ist die Bibliographie im Anhang. Einem auf den ersten Blick verblüffenden Thema nähert sich Nino Kvirikadze in ihrem Aufsatz „Zur Funktion der Goetheschen Werther-Details in Thomas Manns Buddenbrooks“. Bekannt ist zwar, dass Thomas Mann bereits 1905 über Goethe-Kenntnisse verfügte – die Schiller-Novelle „Schwere Stunde“ hätte sonst nicht entstehen können –, doch frappiert zunächst, dass die im „Werther“ geradezu leitmotivisch verwendeten Farbattribute gelb und blau für Thomas Mann Anlass gewesen sein sollen, in ähnlicher Weise in den „Buddenbrooks“ zu verfahren. Ob sich das alles in den Augen der Spezialisten als überzeugend erweisen wird, ist eine offene Frage; eine interessante Hypothese aber ist es allemal. Zu den Stärken der internationalen Germanistik zählt die linguistische Expertise, denn Voraussetzung für jede Beschäftigung mit dem literarischen Text ist das Wissen um die sprachliche Struktur des Deutschen. Eine schöne Frucht solcher Beschäftigung ist die Untersuchung, die Manana Bakradze im vorliegenden Band unter dem Titel „Zur Rolle der Modalpartikeln in J. W. Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther“ vorgelegt hat. Anhand von gut gewählten Textbeispielen geht sie der Funktion nach, die Modalpartikel (ja, doch, wohl, denn) insbesondere im Hinblick auf die Emotionalität des Textes ausüben. Modalpartikel, so heißt es abschließend (S. 109), „geben dem Werk noch mehr emotionale, romantische und leidenschaftliche Töne“. Einen anderen linguistischen Akzent setzt Teona Nizharadze in ihrem Beitrag „Grammatische Substitutionen in der georgischen Übersetzung des Romans Die Leiden des jungen Werther von J. W. von Goethe“. Hatte Nugescha Gagnidse in ihrem Aufsatz Urteile von Literaturwissenschaftlern über die Qualität der georgischen „Werther“-Übersetzungen bilanziert, so erläutert Nizharadze an Beispielen Übersetzungsprobleme, wie sie sich aus der unterschiedlichen Struktur der deutschen und der georgischen Sprache ergeben – ein Thema von grundlegender Bedeutung für alles literarische Übersetzen, hier instruktiv vor Augen geführt. Der deutsche Leser möchte all dem seinen Respekt bezeugen und muss zugleich bekennen – ein eigener, nicht aufzuhebender Makel –, dass ihm die Umschriften der georgischen Übersetzungsproben verschlossen bleiben; zum Erlernen des Georgischen ist es (für mich) leider zu spät. Auf eher traditionelle Weise nähert sich Nino Scharaschenidse der „Sprachliche[n] Darstellung von Emotionen in Goethes Die Leiden des jungen Werther“, doch zieht sie für ihre Untersuchung sorgfältig ausgewählte Textbeispiele heran, an die sie plausible Beobachtungen knüpft. „Die direkte Subjektivität“, so heißt es resümierend (S. 159), „die bildhafte Sprache, die Verwendung von Metaphern, Vergleichen u. ä. und die sinnliche Körperlichkeit tragen allesamt dazu bei, dass die Gefühle der Figuren lebendig werden und beim Leser eine starke Resonanz erzeugen.“ Weit ins Weite führt uns eine Studie von Ramaz Svanidze, die auf der Basis maschineller Textverarbeitung den „Werther“ sowie die beiden Wilhelm Meister-Romane zum Gegenstand einer korpuslinguistischen Untersuchung macht, was in meinen Augen zunächst auf sprachstatistische Ermittlungen (z. B. zur Häufigkeit einzelner Worte in den untersuchten Texten) hinausläuft; erst danach kann, was auch nicht bestritten wird, eine literaturwissenschaftliche Interpretation einsetzen. In einem zweiten Teil werden methodische Hinweise gegeben, wie von Schülern und Studenten vor, während und nach der Lektüre der genannten Romane zu verfahren ist. Vieles davon kommt einem sehr vertraut vor, und es bleibt nur zu hoffen, dass diese Hinweise auf fruchtbaren Boden fallen.
Damit ist der Kreis der „Werther“-Darlegungen umschritten, doch die thematische Vielfalt des Bandes ist damit nicht erschöpft. Nanuli Kakauridze – Kutaissis prominenteste Germanistin, jüngst auch Gast unserer Hauptversammlung – legt eine Untersuchung mit dem Titel „Zu Fragen der Dramentheorie in Goethes theoretischen Schriften“ vor, die sich durch souveräne Auswahl des Materials und Sicherheit des Urteils auszeichnet; beeindruckt hat mich besonders, was uns die Autorin zu den Shakespeare-Studien des späten Goethe mitzuteilen weiß. Einem in der Forschung lange vernachlässigten Thema widmet sich Irakli Tskhvediani in seinem Beitrag „Goethe-Rezeption in der englischen Literatur des Viktorianischen Zeitalters“. Materialreich und besonnen urteilend unterrichtet er uns über die Goethe-Rezeption bei Thomas Carlyle, George Henry Lewes und George Eliot, wendet sich dann der viktorianischen Poesie von Arthur Hugh Clough und Alfred Lord Tennyson zu. Insbesondere der Goethe-Biograph Lewes verdiente es, in seiner Bedeutung für die europäische Goethe-Rezeption genauer betrachtet zu werden, ist seine Biographie doch auch im deutschen und russischen Sprachraum weit verbreitet gewesen. Im (prüden) viktorianischen Zeitalter ist Goethe insbesondere seiner ‚unmoralischen‘ Eigenheiten und seines vermeintlichen Heidentums wegen an den ideologischen Pranger gestellt worden, was der Autor nicht zuletzt anhand von Debatten um den „Prolog im Himmel“ überzeugend nachweisen kann. Als Gegenbewegung entwickelt sich im späten 19. Jahrhundert ein spezifischer Ästhetizismus, für den Oscar Wilde und Matthew Arnold als Repräsentanten erscheinen; und auch für sie kann Goethe modellhafte Bedeutung beanspruchen.
Die Lebendigkeit einer internationalen Germanistik erweist sich nicht zuletzt an ihrer Hinwendung zur deutschen Literatur der Gegenwart; die Germanistik in Kutaissi macht da keine Ausnahme. Im vorliegenden Sammelband beschäftigt sich Natia Nassaridse mit „Anspielungen auf Goethes Wilhelm Meister in Günter Grass‘ Die Blechtrommel“. Auch wenn die These, bei dem Roman von Grass handele es sich um einen Anti-Bildungsroman, seit längerem existiert, so ist es doch instruktiv und erhellend, sie anhand sorgfältiger Beobachtungen am Text wiederum verifiziert zu sehen. Eine Untersuchung zu „Peter Handkes Falsche Bewegung und Goethes Wilhelm Meister“ legt Irine Schischinaschwili vor. In Prosatexten und Notizbüchern habe sich Handke, wie die Autorin überzeugend nachweist, auf Goethe bezogen. Im Besonderen trifft das für die im Titel genannte Filmnovelle zu, deren Goethe-Bezüge die Autorin schlüssig herausarbeitet. Ihre Untersuchung ist auch deshalb von Belang, weil Handke mehrfach ins Georgische übersetzt worden ist. Aus Handkes Notizbüchern zitiert die Autorin (S. 60) eine Stelle, in der Handke eigener Sehnsucht, im Grunde der Sehnsucht aller Goethe-Leser eine Stimme gibt: „Ich stellte mir gerade vor, daß, wenn man genug Geld hätte (sorglos sein könnte) und auch schon fürs Leben etwas gemacht hätte, man seine Tage ganz mit Goethe verbringen könnte, und daß es im Leben nichts Besseres gäbe als das.“ Nichts spricht dagegen, eine solche Leidenschaft auch für das Lesen von Märchen in Anspruch zu nehmen, mit denen sich Eliso Koridze in ihrem Beitrag „Märchen als uralte Überlieferung (Am Beispiel der deutschen und georgischen Märchen)“ beschäftigt, im Konkreten aber mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen ihnen entdeckt. Einem Randphänomen (aus literaturwissenschaftlicher Sicht) nähert sich Sophie Mujiri, wenn sie Überlegungen zur „Interaktion von Prosodie und Informationsstruktur“ anstellt.
Zu den Charakteristika der Sammelbände aus Kutaissi gehört es, dass auch Nachbardisziplinen, in diesem Falle Kunstwissenschaften und Geschichte, zu Wort kommen. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für Weimar, deren Herzogin Anna Amalia Bibliothek die weltweit größte Faust-Sammlung besitzt, ist das, was Baia Koguashvili über „Goethes Faust auf der georgischen Bühne“ ausführt. Die Befreiung Georgiens aus der politischen und ästhetischen Überherrschaft der Sowjetunion hat bei den Theaterregisseuren, die sich zu einer „Regisseursliga“ zusammenfanden, neue schöpferische Impulse freigesetzt und auch postmodernen Tendenzen Raum gegeben. 1999 inszenierte Levan Tsuladze auf einer kleinen Bühne in Tbilissi, dem „Theaterkeller“, „Faust“ als Puppenspiel und gab der Faust-Puppe Züge von Goethe. Diese Inszenierung, von der einige Abbildungen einen Eindruck vermitteln, machte Furore, wurde 2000 zu einem (erfolgreichen) Gastspiel nach London geholt, dem Einladungen nach Wrocław und Edinburgh folgten. Sie ist gleichermaßen Spiegel der gesellschaftlichen Situation in Georgien und Zeugnis einer freien Theaterkultur, wie sie nur unter prinzipiell demokratischen Verhältnissen entstehen kann. Längst werden die Puppen archiviert worden sein. Vielleicht wäre es einen Versuch wert, einige wenigstens für Weimar zu sichern. Einen Ausflug in die Operngeschichte unternehmen Irina Sarukhanova und Tatiana Javakhishvili, wenn sie die „Transformation von Goethes Faust und Werther in Charles Gounods und Jules Massenets lyrischen Opern“ vorstellen und anhand subtiler Beobachtungen resümieren können, dass es sich in beiden Fällen um eigenständige Kunstwerke handelt, deren Rang man verfehle, wenn man, wie häufig geschehen, nur danach frage, ob sie den Intentionen Goethes gerecht werden. Materialreiche Porträts von deutschen Forschungsreisenden, zusammengestellt von Tamaz Gvenetadze, stehen am Schluss des Bandes – von den Herausgebern wohlüberlegt und mit gutem Grund so disponiert, legen sie doch davon Zeugnis ab, dass Georgien und Deutschland seit Jahrhunderten kulturelle und wissenschaftliche Gemeinsamkeiten besitzen. Daran zu erinnern ist angesichts einer problematischen Weltlage hier und dort mehr denn je angebracht. Bei alledem sollte der zitierte Satz von Handke nicht aus dem Gedächtnis verschwinden.
Den Kollegen aus Kutaissi sei für ihren substantiellen Band herzlich Dank gesagt. Möge er zahlreiche aufgeschlossene Leser finden.

Nanuli Kakauridze und Giorgi Chincharauli (Hrsg.)
Goethe-Tage 2024. Band 17
Anlässlich des 250. Jahrestages von J. W. Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther
Kutaissi 2024
230 Seiten
ISBN 978-9941-518-06-5




