Blog

Aktuelles, Neue Bücher

Ein zuweilen unscharfes historisches Panorama – zu dem Roman „Unsterbliche Überreste“ von Thomas Göller

von Jochen Golz

Erinnere ich mich richtig, so erschien am 22. März 1999, Goethes Todestag, oben auf Seite 1 der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – an einem Ort also, der in der Regel wichtigen politischen Nachrichten vorbehalten ist, in diesem Fall aber absichtsvoll auf das historische Datum bezogen war – ein Artikel kulturellen Inhalts, in dem von einem historischen Geschehen berichtet wurde, das sich 1970 in Weimar abgeschirmt von aller Öffentlichkeit vollzogen hatte: Die Öffnung von Goethes Sarg und die danach erfolgende Mazzeration (die Entfernung von Geweberesten) von Goethes Knochenbau. Was sich damals als konservatorisch notwendig erwies, um der weiteren Zerstörung des Skeletts vorzubeugen, hatte 1999 in den Augen der FAZ-Herausgeber eine ganz andere Tendenz: So wie die sowjetischen Kommunisten nicht davor zurückgeschreckt wären, ihre Revolutionsheiligen an der Moskauer Kremlmauer einbalsamiert zur Schau zu stellen, so hätten auch die Hardliner in der DDR ruchlos Hand an Goethes Gebeine gelegt – so etwa die Tendenz des Artikels. Nicht zuletzt durch eine Untersuchung von Albrecht Schöne über das Schicksal von Schillers Schädel hat sich der ideologische Nebel mittlerweile gelichtet, haben sich die Gemüter beruhigt, spricht niemand mehr von den Untaten der Experten aus dem Weimarer Museum für Ur- und Frühgeschichte, die ihre Arbeit gemacht und diese per Foto dokumentiert haben – Fotos und schriftliche Dokumente liegen heute im Goethe- und Schiller-Archiv. Nicht auszudenken, wenn damals die „Bild“-Zeitung Wind von der Sache bekommen hätte – manchmal hat Diskretion auch ihre Vorteile.

Von solchen „unsterblichen Überresten“ handelt der Roman von Thomas Göller, der stellenweise den Charakter einer dokumentarischen Reportage annimmt. Im Dritten Teil seines Buches (S. 263-266) hat er das nach dem FAZ-Artikel einsetzende öffentliche Echo klug kommentiert. Göller spannt den historischen Bogen weit. Er setzt ein mit dem Abtransport der Särge Goethes und Schillers aus der Weimarer Fürstengruft in einen Jenaer Luftschutzbunker Ende 1944 und deren Rückführung im April 1945 nach Weimar – allein diese Vorgänge füllen den Ersten Teil und machen ein Drittel des gesamten Romans aus, bilden gewissermaßen das Präludium für den Zweiten Teil. Darin widmet sich Göller all jenen Umständen, die mit Schillers Begräbnis und der rund 20 Jahre später erfolgenden Bergung des angeblichen Schillerschädels zusammenhängen, und wendet sich dann dem Geschehen um Goethe zu, als dieser den Schädel des Freundes für eine Weile ins Haus am Frauenplan holen ließ und in diesem Zusammenhang das Gedicht „Im ernsten Beinhaus war’s …“ schrieb; geschildert wird dies partiell aus der Perspektive Wilhelm von Humboldt, der damals bei Goethe zu Gast war und in Briefen an seine Frau von den Vorgängen berichtet. Schillers Überführung in die von Coudray erbaute Fürstengruft sowie Goethes Tod und seine Überführung an denselben Ort bilden den Abschluss des Zweiten Teils. Im Dritten wendet sich der Autor zunächst noch einmal dem unmittelbaren Nachkriegsgeschehen zu, nimmt das Thema Buchenwald (die Existenz nach 1945 eingeschlossen) in den Blick, lässt die Zeitzeugen Emil Ludwig und Vahl (oder Wahl) zu Wort kommen und das Goethejahr 1949 Revue passieren, ruft die Erinnerung an Thomas Manns Schiller-Rede von 1955 herauf, um dann gewissermaßen in die Zielgerade einzubiegen: Es treten auf die an der Goethe-Mazzeration Beteiligten (in frei erfundener Rede und Gegenrede) sowie – in schöner Konsequenz – all jene, die seit 2005 mit der DNA-Untersuchung der Knochen im Schiller-Sarg befasst waren. Am Ende bekommen ein fiktiv anwesender Goethe (und in seinem Munde Schiller) das letzte Wort.

Für all dies wendet der Autor 302 Seiten auf, die teils mit sachlicher Darstellung, teils mit (natürlich fiktiven) Gesprächen zwischen den Handelnden gefüllt werden. Göller, das sei zunächst hervorgehoben, hat solide recherchiert. Weder hängt er der Legende an, dass Schiller zu nächtlicher Stunde in einem Massengrab verscharrt worden sei, noch stimmt er in den Ton der FAZ von 1999 ein. Was er zur Mazzeration und zur Untersuchung der bis dato für ‚echt‘ gehaltenen Schiller-Schädel mitzuteilen weiß, hält kritischer Nachprüfung stand. Was ihm an gedruckten Quellen vorlag – z. B. von Albrecht Schöne, von den regionalhistorischen Untersuchungen Volker Wahls, von älteren Studien zur Problematik von Schillers echtem oder unechtem Schädel –, ist sorgfältig benutzt worden; sogfältig geht er auch mit den Zitaten um. Der Leser kann ihm, was das Dokumentarische betrifft, weithin vertrauen. Inwieweit er selbst in Archiven geforscht hat, bleibt offen; eine Nachbemerkung des Autors, die Auskunft geben könnte, gibt es nicht. Es hätte nahegelegen, Dokumente zur Mazzeration im Goethe- und Schiller-Archiv (GSA) heranzuziehen, doch dort soll Göller, so lautet eine Archivauskunft, nicht gewesen sein. Dass Göller aber internes Material eingesehen haben muss, ist daran zu erkennen, dass er die Namen von Personen, die ihm darin entgegengetreten sind, im Roman verändert hat, jedoch so, dass Kenner sie leicht identifizieren können; das geschieht nicht nur in diesem Zusammenhang, und nur die ganz Prominenten bleiben davon ausgenommen. Der die Mazzeration beratende Pathologe der Universität Jena hieß nicht Bollinger, sondern Bolk, der Direktor des Museums für Ur- und Frühgeschichte (nicht aller Museen) in Weimar nicht Balzer-Brehm, sondern Behm-Blancke, der Direktor des Goethe-Nationalmuseums nicht Ehrlicher, sondern Ehrlich, ein Restaurator nicht Hacke, sondern Hucke, und so weiter. Ob tatsächlich auch ein Leutnant der Staatssicherheit die Mazzeration begleitet hat, vermag ich nicht zu überprüfen; tunlichst wird man ihn gar nicht in die Akten aufgenommen haben. Etwas heikel wird es bei noch lebenden Personen. Ob sich Hellmut Seemann – zu der Zeit, als die vermeintlichen Schiller-Schädel ins Labor wanderten, Präsident der Klassik Stiftung – tatsächlich angemessen behandelt fühlen kann, wenn er im Roman als Norbert von Neese erscheint und als Redner wörtlich (nach originalen Quellen?) zitiert wird, möchte ich nicht abwägen. Hier hat sich Göller möglicherweise im Vertrauen darauf, dass schon nichts schiefgehen wird, etwas sehr weit vorgewagt; personenrechtlich ist das immer riskant.

Mit den Namenszuweisungen treibt Göller nicht nur dort ein problematisches Spiel. Gewiss gehört es zu den Usancen eines historischen Romanciers, historische und fiktive Personen in einem Ensemble auftreten und miteinander sprechen zu lassen. Im Ersten Teil ist die Goethe-Gesellschaft in die Entscheidungen über das Schicksal der Särge einbezogen. Auch hier sind Namen zur Kenntlichkeit verändert. Hans Wahl, als Direktor von Goethe-Nationalmuseum und GSA so etwas wie das ausführende Organ der Goethe-Gesellschaft in Weimar, heißt Hermann Vahl, Anton Kippenberg, Insel-Verleger und Präsident der Gesellschaft, heißt Albert Kipphof, der GSA-Archivar Max Hecker bleibt aber kurioserweise Max Hecker, hätte er doch auch Hocker oder Hucker heißen können. Sie alle treten in einer Sitzung des Vorstands der Goethe-Gesellschaft auf, geben ihre Zustimmung zum Transport der Särge und ergehen sich im Pathos der zeitüblichen (nazistisch getönten) Goethe-Verehrung. Was daran historisch überliefert ist, was nicht, soll hier nicht auseinandergelegt werden. Vahl wird angedichtet, er habe dem (fiktiven) Schatzmeister der Goethe-Gesellschaft, einem Weimarer Bauunternehmer namens Fichter, den Tipp gegeben, die im Goethe-Nationalmuseum aufgestellte Hitler-Büste, an der Fichters Herz hing (und die tatsächlich dort stand), im eigenen Garten zu vergraben; dazu Vahl: „Der Führer muss weg, damit er als Führer erhalten bleibt!“ (S. 81) Später bestreitet Vahl (oder Wahl, wie man will) im Roman, sich bei amerikanischen Offizieren anbiedernd, jedes Wissen um die Gartenbuddelei; in meinen Augen erhält dies den Charakter einer (überflüssigen) Denunziation. Wahls Charakterbild schwankt in der Geschichte. Auf der einen Seite war er hochgebildet, kenntnisreich und von aufrichtiger Sorge um die Erhaltung und Vermehrung der klassischen Bestände erfüllt – sein überraschender Tod im Frühjahr 1949 war gewiss auch permanenter Überarbeitung in den ersten Nachkriegsjahren zuzuschreiben –, auf der anderen schlägt der Opportunismus eines deutschen Bildungsbürgers zu Buche, der der Nazi-Elite die verbale Anerkennung nicht verweigert, von seinem jüdischen Kollegen Julius Wahle auf eine keineswegs noble Weise Abstand hält, nach Kriegsende aber Goethes ephemeres Interesse an der Ikonenmalerei sogleich zum Gegenstand einer eigenen Abhandlung fürs Goethe-Jahrbuch macht und sich damit bei den neuen Herrschern in der Sowjetischen Militäradministration ins rechte Licht setzt. Ein fanatischer Nazi, wie im Roman porträtiert, war Wahl (oder Vahl) aber gewiss nicht. Es hätte genügt, wenn Göller sich an der Historie orientiert und nur in dieser Hinsicht Licht und Schatten verteilt hätte.

Von dem generellen Vorwurf jedoch, Licht und Schatten allzu einseitig verteilt zu haben, ist Göller freizusprechen. Im Kern waltet bei ihm historische Ausgewogenheit. Gleichwohl hat mich – zu wiederholten Malen – bei diesem Buch noch etwas anderes beschäftigt. Persönlich finde ich wenig Geschmack daran, wenn Goethe als handelnde Person vorgeführt wird und ihm ‚originale‘ Sätze in den Mund gelegt werden; das gelingt eigentlich selten oder nie, selbst wenn – wie bei Göller – Zitate aus Gedichten, Briefen, Tagebüchern oder Gesprächen eingeschmolzen werden. Es bedarf einer besonderen Kunstleistung, um den Anschein des ‚Authentischen‘ zu erwecken. Gelungen scheint mir das nur einmal zu sein, und zwar in dem großen inneren Monolog im 7. Kapitel von Thomas Manns „Lotte in Weimar“. In Göllers Roman liest man die realitätsorientierten, quasi reportageartigen Passagen mit größerem, die rein fiktiven mit geringerem Interesse, kann aber auch – wie im Falle Vahl/Wahl – fehlgeleitet werden.

Vielleicht unternimmt ein anderer Autor einmal den Versuch, Zusammenhänge und Unterschiede zwischen Goethe-Mazzeration und Schiller-Schädel-Untersuchung in einem Sachbuch darzustellen, das sich in der Tradition von Albrecht Schöne bewegt. Denn wo im ersten Falle aus guten Gründen die Öffentlichkeit ausgeschlossen und erst 29 Jahre später ein Mediencocktail zubereitet wurde, ist im zweiten Falle das ganze Treiben vor allem aus einem von den Medien geschürten und nicht selten fragwürdigen öffentlichen Interesse an ‚historischer‘ Wahrheit herzuleiten. Dass die Mazzeration sich als konservatorisch notwendig erwiesen hatte, die Untersuchung der ‚Schiller-Schädel‘ hingegen in ein Nichts mündete, gehört zu den weiteren Paradoxa der Ereignisse, die nicht zuletzt im Licht der Mediengeschichte dargestellt zu werden verdienten.

(c) Königshausen & Neumann

Thomas Göller

Unsterbliche Überreste

Würzburg 2025
302 Seiten
ISBN 978-3-8260-9476-7

24,80 €


Schlagwörter