Blog

Neue Bücher, Ortsvereinigungen

Stalking im Weimar der Klassik – die Jahresgabe 2022 der Ortsvereinigung Hamburg

von Andreas Rumler

Iphigenie, Charlotte, Ottilie, Margarete oder Mignon – Namen, heute kaum mehr gebräuchlich, jungen Leuten dürften sie wie „Schall und Rauch“ vorkommen (was sie gewiss anders formulieren würden), allerdings: ohne Assoziationen zu wecken. Und doch haben diese Charaktere das Denken von Schülern über Generationen bewegt, deren Horizont erweitert. Es handelt sich um „Goethes Frauengestalten in Drama und Roman“. So der Titel der Jahresgabe der Hamburger Ortsvereinigung der Goethe-Gesellschaft von 2022. Auch im vergangenen Jahr haben die Hanseaten ihre Erfolgsserie gut besuchter Klassik-Seminare seit 1998 fortgesetzt, für Schüler und Lehrer gleichermaßen attraktiv, veranstaltet zusammen mit dem Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung

Erstaunlich aktuell liest sich, was die Referenten hier vortragen. Wolfgang Bunzel vergleicht „Bettine Brentano / von Arnim und Goethes Romanfigur Mignon – Stationen einer Aneignung“ (S. 9 – 31), Peter-André Alt untersucht „Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. Eine Bühne für die schöne Seele“ (S. 32 – 38), Gesa von Essen beobachtet auch an Hand von Illustrationen „Margarete alias Gretchen. Fausts Geliebte im Wechselspiel der Künste“ (S. 39 – 67) und Jochen Golz nimmt sich der „Frauengestalten in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“ an (S. 68 – 83). Den Autoren gelingt es nachzuweisen, dass Goethe hier sozial konkret Schicksale gestaltet, wie sie bis in unsere Zeit Interesse beanspruchen können. So spricht Jochen Golz angesichts des reichen Ensembles der Frauengestalten in Goethes Œuvre von einer „Phänomenologie“, zitiert Riemer mit eine Äußerung Goethes: „wonach der Sinn eines Romans darin liege, ‚soziale Verhältnisse und die Conflicte derselben symbolisch gefaßt darzustellen.‘“ (S. 68) Das ist in der Tat recht modern gedacht, fast möchte man von Realismus sprechen.

Auch auf realer Ebene jenseits literarischer Bezüge können mitunter „Conflicte“ auftreten, wie man sie eher aus der Yellow Press kennt. Das macht Wolfgang Bunzel eingangs in seinem Beitrag über Mignon und Bettine Brentano / von Arnim als „Stationen einer Aneignung“ deutlich. Versucht ist man, von einem Fall von Stalking im Weimar der Klassik zu sprechen. Diese „Aneigung“ war in jeder Beziehung umfassend, bezog sich in ungewöhnlichem Umfang sowohl auf die Romangestalt als auch auf den Dichter selbst. Und führt schließlich zum Erkalten des anfangs freundschaftlichen Verhältnisses. Ein Zeitgenosse nannte Bettine „Göthe‘s Mignon“ (S. 29), andere rätselten, ob sie vielleicht das Vorbild der Romanfigur gewesen sei. Nicht mehr wehren konnte Goethe sich dagegen, dass die gnadenlose Verehrerin nach seinem Tod ihren angeblichen Briefwechsel mit ihm herausgab.

Goethes „Iphigenie“ steht im Zentrum von Peter-André Alts Überlegungen zur Rolle der Frau in der Gesellschaft als Gattin und Mutter. Sie suche eine „selbstbestimmte Rettung anzubahnen, indem sie sich dem Patronat der Olympischen und den Handlungskonventionen der Gesellschaft gleichermaßen entzieht.“ (S. 34) Letztlich ist das eine Entwicklung von passivem Erdulden hin zu aktivem Eingriff in die Verhältnisse und ein Versuch, sie zu beeinflussen: „Wo Euripides‘ Iphigenie noch das Stummsein als Mittel zum Erfolg gepriesen hatte (‚Ein edel Ding ist ein verschwieg’ner Mund‘), praktiziert Goethes Heldin eine rhetorische Überzeugungsarbeit, die sämtliche Register der Beredsamkeit zieht.“ (S. 35)

Als eine der bekanntesten Frauengestalten ist Fausts Gretchen in die Literatur eingegangen. Gesa von Essen zeigt, welche Anregungen und Motive, reale Vorbilder und Figuren der Literatur Goethe beeinflusst haben (könnten). Er habe „das überlieferte Stoffgefüge durch die Integration der sog. Gretchen-Tragödie auf eine neue Ebene“ gehoben und damit „einen entscheidenden Umschlagspunkt in der Transformation des Mythos“ markiert (S. 40). Einerseits sei sie „überaus differenziert und vielschichtig angelegt“, andererseits mit der Kurzform Gretchen charakterisiert, „die menschliche Nähe und Vertrautheit ebenso signalisiert, wie sie eine gewisse herablassende Verniedlichung, ja Infantilisierung einschließen“ könne (S. 41). Diese beiden Tendenzen hätten ein Eigenleben gewonnen, „in der weiteren Rezeptionsgeschichte die produktive künstlerische Auseinandersetzung […] in besonderer Weise herausgefordert und inspiriert“ (S. 41). An Hand der Illustrationen von Johannes Riepenhausen, Peter Cornelius, Moritz Retzsch, Alfred Crowquill, Eugène Delacroix, Louis Ammy Blanc, Wilhelm von Kaulbach, Ary Scheffer, einem Bühnenbild von Karl Friedrich Schinkel oder einer Büste von Augustus Saint-Gaudens stellt sie diese Entwicklung detailliert dar, bis hin zu anrührenden Postkarten mit Fotos im Kostüm der damaligen Zeit. Berühmt und erfolgreich sind die musikalischen Neukonturierungen der Gestalt Gretchens durch Hector Berlioz und Charles Gounod. Weniger bekannt dürfte dagegen Anselm Kiefers großformatiges Gemälde sein: „Dein blondes Haar, Margarete“ von 1981, das seinerseits auf Paul Celans „Todesfuge“ anspielt.

Jochen Golz nimmt schließlich das Figurenensemble der „Wahlverwandtschaften“ insgesamt unter die Lupe, nicht nur deren weibliche Hälfte. Die vielfältigen Bezüge und Verflechtungen ließen sich in ihren differenzierten Nuancierungen, Vorausdeutungen und symbolischen Verweisen sonst schwer hinreichend erläutern. Dabei zeigt er auf, wie sich bereits in der Arbeits- und Aufgabenverteilung, in der Neuordnung des Parks, bei Errichtung der Mooshütte und des Sommerhauses wie auch der Umgestaltung des Friedhofs und Ausmalung der Kapelle Momente der künftigen Entwicklung erkennen lassen. Durch leichte Bewegungen der Figuren werden Verhältnisse angedeutet. Bei Ottilie wird diese Dezenz auf die Spitze getrieben. So konstatiert Jochen Golz: „Von ihrer Seite sind es Gesten, die Aufschluss über ihr Inneres geben. Das Wort Nein wird ihr nicht über die Lippen kommen, in solchem Fall vollführt sie eine bestimmte Gebärde; nonverbale Kommunikation ist ihr eigen.“ (S. 78)

Außerordentlich subtil formuliert der Erzähler mit feinem Humor Einsichten. Jochen Golz spricht davon, Goethe nehme sich die Freiheit, das Thema Ehe „mit beinahe ironischer Nonchalance zu behandeln.“ (S. 71) Oder in anderem Zusammenhang: Eduards dilettantisches Geigenspiel begleitet Ottilie recht frei am Klavier, „dass selbst der Komponist […] seine Freude daran gehabt hätte, ‚sein Werk auf eine so liebevolle Weise entstellt zu sehen.‘“ (S. 78) Die Tragödie der „Wahlverwandtschaften“ spielt sich vor dem Hintergrund einer sozialen und historischen Entwicklung ab, in der „der Adel Privilegien einbüßte und seine politische Macht nach und nach mit einem prosperierenden Bürgertum teilen musste.“ (S. 69) Objektiv gegebene Bedingungen korrespondieren in weiten Zügen mit Entwicklung und Verlauf der Handlung, bestimmen sie, nicht nur freie Entscheidungen der Subjekte. Bereits der Titel „Wahlverwandtschaften“, der Wissenschaft der Zeit entlehnt, legt diese Lesart nahe, natur- oder sozialgesetzliche und historische Bedingungen auch für bestimmend zu erachten.

(c) Janos Stekovics

Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar e. V.
Goethes Frauengestalten in Drama und Roman: Iphigenie, Charlotte / Ottilie, Margarete, Mignon

Wettin-Löbejün 2022
88 Seiten
ISBN 978-3-89923-447-3

Preis: 14,80 €


Schlagwörter