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Goethe weltweit

Goethe-Vereinigungen in Russland

von Larissa Polubojarinova

Die Goethe-Aktivitäten in Russland werden aus keinem einheitlichen Zentrum gesteuert bzw. koordiniert, trotzdem kann man von einem rege funktionierenden Goethe-Netzwerk in Russland sprechen. Die acht Goethe-Vereinigungen – Goethe-Gesellschaften bzw. Goethe-Kommissionen – verteilen sich relativ gleichmäßig im europäischen Teil Russlands, vom äußersten Westen (Kaliningrad) über die beiden Großstädte Moskau und St. Petersburg und über Tambow im mittleren Russland, bis hin zu den Wolga-Städten Samara und Uljanowsk und den weiter östlich im Ural-Gebiet gelegenen Ishewsk und Glasow. Leider gibt es bis jetzt keine Goethe-Gesellschaft hinter dem Ural. Der ertragreiche Weimar-Aufenthalt einer jungen Germanistin aus Chabarowsk Alina Kuntsevich, die 2019 drei Monate Werner-Keller-Stipendiatin war, lässt allerdings hoffen, dass sich künftig auch im Fernen Osten einmal Enthusiasten in Goethes Namen werden vereinigen können. In Sibirien wäre zweifelsohne auch Tomsk – das „sibirische Athen“, eine alte Universitätsstadt, wo der dort befindliche Riesenbestand der Vassilij-Zhukovskij-Bibliothek eine gute Grundlage u.a. auch für Goethe-Forschung bildet – ein geeigneter Ort für eine Goethe-Gesellschaft. Die dortigen Kolleginnen und Kollegen möchte ich während der Ende November (leider online) anstehenden 18. Tagung des Russischen Germanistenverbandes auf diese Option ansprechen. 

Goethe-Präsenz in Russland hat eine viel längere Geschichte als die russischen Goethe-Gesellschaften und reicht bis ins Jahr 1780 zurück, als in St. Petersburg die ersten russischen Goethe-Übersetzungen erschienen: „Clavigo“ (das Stück wurde im selben Jahr in Petersburg auch aufgeführt) und „Die Leiden des jungen Werthers“. Weitere wichtige Stationen waren 1826 die Ernennung Goethes zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften des Russischen Reiches, 1865-1871 die Herausgabe der russischsprachigen „Gesammelten Werke“ Goethes in sechs Bänden durch Pjotr Weinberg, 1871 das Erscheinen der ersten monographischen Untersuchung zu Goethe auf Russisch, „Goethe und seine Zeit“ von Aleksandr Schachov, 1932 die große Sitzung der Leningrader Akademie der Wissenschaften zum 100. Todesjahr Goethes, 1937 das Erscheinen der fundamentalen Monographie Viktor Zhirmunskijs „Goethe in russischer Literatur“. Der Tatsache, dass Goethes Werk im 18. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in Petersburg – Petrograd – Leningrad übersetzt, erforscht und gefeiert wurde, wurde dadurch Rechnung getragen, dass es in Petersburg 1999 zum 250. Goethe-Jubiläum zur Errichtung einer Goethe-Büste (des Bildhauers Levon Lasarev) am Newskij-Prospekt vor der protestantischen Petri-Kirche kam.

Goethe-Büste am Newskij-Prospekt

Die erste russische Goethe-Vereinigung entstand 1979 in Moskau, wo man unter Mitwirkung der bedeutenden Goethe-Forscher Aleksandr Anikst und Sergej Turaev in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften eine „Goethe-Kommission zur Erforschung von Goethes Werk und der Kultur der Goethe-Zeit“ gründete. Diese Formation wurde nach dem Vorbild der zwei Jahre zuvor (ebenfalls unter der Ägide der Akademie) ins Leben gerufenen Shakespeare-Kommission gebildet. Ähnlich hatte auch die 1998 – kurz vor dem großen Jubiläumsjahr Goethes – auf Initiative von Rostislav Danilevskij, Gennadij Stadnikov und Ada Beresina gegründete Petersburger Goethe-Kommission primär eine starke akademische Bindung und Prägung. Dazwischen lag die Gründung erster regionaler Goethe-Gesellschaften in Russland: Ende der 1980er Jahre durch Elena Volgina in Samara und 1994 durch Lija Kaufman in Tambow. Das Goethe-Jubiläumsjahr 1999 hat Goethe-Gesellschaften in Kaliningrad und Ishevsk ins Leben gerufen. Die jüngsten (dabei aber auch mit die aktivsten) Goethe-Gesellschaften entstanden 2005 in Glasow und 2009 in Uljanovsk. Die große moralische und logistische Unterstützung seitens der Weimarer Goethe-Gesellschaft und ihrer Präsidenten Werner Keller und Jochen Golz spielte bei der Kreierung der russischen Goethe-Dependancen stets eine kaum zu unterschätzende Rolle.

Trotz der oben erwähnten, bei der Größe des Landes unvermeidlichen Autonomie einzelner Goethe-Vereinigungen kommt in der Tätigkeit der russischen Goethe-Gesellschaften bzw. Goethe-Kommissionen – ob im riesengroßen Moskau oder im kleinen Glasov – ein ähnliches Muster zum Tragen. Gemäß ihrer dreifachen Aufgabe, Goethes Werk wissenschaftlich zu erkunden, akademisch zu vermitteln und ihm popularisierend zur Breitenwirkung zu verhelfen, kombinieren die russischen Goethe-Vereinigungen ‚reine‘ Forschungs- bzw.  Lehraktivitäten, deren Früchte wissenschaftliche Publikationen, verteidigte Dissertationen und angebotene universitäre Kurse zu Goethe und seiner Zeit sind, mit der Gestaltung kulturell relevanter aufklärerischer Events, in deren Zentrum Goethe und seine Zeit oder, breiter, die deutsche Kultur steht. Der Turnus dieser Events, die wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Vorträge, Lesungen, Buch-Präsentationen, musikalische und Theatervorführungen mit einschließen, schwankt zwischen ein- und dreimal pro Jahr. Als Veranstaltungsorte treten oft lokale Hochschulen oder Bibliotheken auf, für Moskau und Petersburg werden u. a. auch Konservatorien, Museen und Theater aktiv in Anspruch genommen (die Petersburger Kommission konnte z. B. einige Sitzungen im Staatlichen Konservatorium, in der Eremitage und im Alexandrinskij-Theater gestalten). Neben dem Kernbestand der Goethe-Vereinigungen, der jeweils drei bis ca. zwanzig Mitglieder einschließt, gehören unbedingt auch Studenten zu den Gestaltern und zum Publikum der Events, besonders intensiv und in beachtenswerter Quantität in Uljanowsk, Samara und Glasow.

Da den Vorstand der Vereinigungen zumeist Germanisten bilden, bieten sie Goethe-Kurse und Goethe-Themen für Master- und Doktorarbeiten entsprechend auch in ihren Vorlesungen aktiv an, suchen parallel dazu Germanistik-Studenten als Mitveranstalter und Publikum für ihre Goethe-Events zu gewinnen. Aber auch Übersetzer, Kunst-, Musikwissenschaftler und Musiker, Maler, Theaterwissenschaftler und Theaterleute, mitunter (insbesondere in Moskau) Leute aus der Natur- und Ingenieurwissenschaft stoßen mit dazu. Als Früchte der 30-jährigen Tätigkeit der Goethe-Kommission Moskau liegen im Moment sieben Bände des Periodikums „Gjotevskije chtenija“ und ein Sammelband „Goethe in russischer Kultur des 20. Jahrhunderts“ vor.  Die Goethe-Kommission von St. Petersburg hat Resultate ihrer Tätigkeit in zwei Sammelbänden mit Forschungsbeiträgen dokumentiert, einer davon („Begegnungen mit Goethe“) auf Deutsch.

Erwähnenswert sind natürlich auch Monographien zu Goethes Werk, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten von den Mitgliedern der Goethe-Vereinigungen publiziert wurden, wie „Faust in Versuchungen des 20. Jahrhunderts“ von Galina Jakuschewa, der langjährigen Präsidentin der Moskauer Goethe-Kommission, „Goethe und Puschkin“ von Rostislav Danilevskij, „J. W. Reichardt, Goethes Gefährte“ (2017) von der Moskauer Musikwissenschaftlerin Elena Panikova, eine Anthologie russischer Übersetzungen von Gedichten Goethes, 2019 herausgegeben von der Vize-Präsidentin der Moskauer Goethe-Kommission Natalia Lopatina, eine historisch-kritische „Werther“-Ausgabe, herausgegeben von Gennadij Stadnikow, eine Anthologie „Goethe: pro et contra“, herausgegeben von Stadnikov und Daniljevskij 2015.

Dennoch ist die Tätigkeit einer Goethe-Gesellschaft, wie sehr sie sich (besonders in Moskau und Petersburg) auch in den wissenschaftlichen Publikationen niederschlägt, mit der Goethe-Forschung nicht identisch, sondern hat unbedingt auch eine starke vermittelnde, kommunikative Komponente – letztere kommt meines Erachtens in den in Samara, Uljanowsk und Glasow besonders stark ausgeprägten, auf Goethe bezogenen studentischen Aktivitäten zum Tragen: das Rezitieren von Goethes Gedichten, studentische Übersetzungswettbewerbe (mit Texten Goethes und seiner Zeitgenossen als Grundlagen), theatralische Aufführungen. Einen sehr sympathischen Eindruck macht z. B. die Initiative der Studierenden der Glasower pädagogischen Hochschule, die im russischen Social Network „Vkontakte“ eine Gruppe unter dem Titel „Goetheaner“ führen, versehen mit einem extra für die Glasower Goethe-Gesellschaft herausgearbeiteten Logo, wo einzelne Goethe-Veranstaltungen repräsentiert und kommuniziert werden. Daraus stammt das folgende Bild von der Aufführung des studentischen Laientheaters in Glasow, das, wenn das inszenierte Stück („An der Arche um acht“) auch nicht von Goethe ist (sondern von dem modernen deutschen Autor Ulrich Hub), die ganze Performance dezidiert unter das Zeichen Goethes stellt, in diesem Fall die deutsche Kultur als solche repräsentierend.

Das aktuelle Corona-Jahr stellt vieles auf den Kopf, so wechseln auch unsere Goethe-Gesellschaften in ihren Veranstaltungen nun notgedrungen zum Online-Format. Um aus dieser Not wenigstens teilweise eine Tugend zu machen, suchen wir auf diese Weise den Teilnehmerkreis zu erweitern, so werden sich an den zwei im November und im Dezember noch anstehenden Online-Veranstaltungen der Petersburger Goethe-Kommission Kolleginnen und Kollegen aus Moskau und Poitiers beteiligen.Am Ende sei das große Goethe-Symposium „Literatur und Kunst im Spannungsfeld Goethes“ erwähnt, das zum 270. Geburtstag Goethes vom Akademischen Institut für Weltliteratur, der Moskauer Goethe-Gesellschaft und der Hochschule für Bühnenkünste am 25./26. November 2019 in Moskau organisiert wurde (siehe eine kurze deutschsprachige Video-Synopsis davon auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=dSQ8AmWyGDQ&feature=emb_logo). Das breite Spektrum der Vorträge seiner über siebzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer (siehe das Programm: http://imli.ru/index.php/konferentsii-2019/3736-mezhdunarodnaya-nauchnaya-konferentsiya-im-spannungsfeld-goethes-literatura-i-iskusstva-v-pole-prityazheniya-gjote) verteilte sich in sieben Sektionen: „Philosophie der Sujets, des Lebens und der Sprache“, „Theorie des Schaffens: Texte und Intertexte“, „Faustiana“, „Lesarten und Übersetzungen – Interpretations- und Dialograum“, „Goethe und die Musik“, „Theater, Film und visuelles Gestalten“, „Goethe im deutschen Kunstbewusstsein“. Dieser Themenreichtum, eine schöne Tagungsatmosphäre, ein solider Anteil an jungen Vortragenden wie eine gute Resonanz in zentraler Presse (https://lgz.ru/article/-49-6716-04-12-2019/klassik-pod-lupoy/) sind ein deutliches Indiz dessen, dass Goethe und sein Werk in und für Russland nach wie vor aktuell und wichtig bleiben.

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 5/2020.


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