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„Goethe verstehen“ zu leicht gemacht – das neue Buch von Gerhard Oberlin

von Jochen Golz

Unter dem Reihentitel „Literatur verstehen“ erscheinen in dem Würzburger Verlag Königshausen & Neumann seit 2021 der „deutsche[n] ‚Weltliteratur‘“ (S. 9) gewidmete Sammelbände. Fürwahr kein geringer Anspruch. Nun also Goethe. Vom Cover blickt ernst und gefasst der junge Dichter ins Weite. In der Kombination mit Titel und Untertitel wird repräsentative Solidität signalisiert.

Blickt man auf den Inhalt des großformatigen Bandes, so stellt sich sehr bald Ernüchterung ein. Versammelt sind dort Texte des jungen wie des alten Goethe: zunächst einige in Sesenheim (heute Sessenheim) entstandene Gedichte, sodann „Die Leiden des jungen Werthers“ in der Fassung des Erstdrucks, ebenfalls in der Fassung des Erstdrucks „Faust I“; abgeschlossen wird diese Textsammlung mit Goethes „Elegie“. Den Werktexten folgen jeweils „Kommentar“ überschriebene Partien, die man, den Untertitel replizierend, als „Deutung“ beschreiben kann. Unkommentiert aber bleibt, aus welchen Gründen die jeweiligen Textfassungen wiedergegeben werden, warum der Erstdruck des „Werther“ und nicht die überarbeitete Fassung abgedruckt wurde, ganz abgesehen davon, dass für eine Buchreihe mit diesem Anspruch einige textkritische Anmerkungen durchaus am Platz gewesen wären. Um dem Charakter eines Kommentars wenigstens näherzukommen, sind am Schluss des Bandes Worterklärungen (ebenso knapp wie banal) zu den einzelnen Werken hinzugefügt worden, wobei die (peinlich-dümmliche) Erläuterung von „Proktophantasmist“ aus „Faust I“ (S. 389: „Kunstwort: Spinner [mit Scheiße im Kopf]“) besonders bemerkenswert ist.

Allein vom Umfang her ergibt sich ein Ungleichgewicht zwischen der originalen Textmenge und den kommentierenden Einlassungen des Autors, die sich etwa bei „Faust I“ auf gerade einmal 16 Druckseiten beschränken – angesichts einer kaum noch zu überblickenden Forschung ein kühnes Unterfangen. Wer von einem ‚klassischen‘ Kommentarverständnis herkommt, wer historisch-philologische Basisinformationen als Voraussetzung für ein genaueres Textverständnis erwartet, wird ohnehin enttäuscht sein. Wer der Auffassung anhängt, dass es beim Verstehen eines Gedichtes (aber auch umfangreicherer Texte) auf interpretierende Hinweise ankommt, die eigene Gedanken des Lesers freisetzen können, wird kaum fündig werden. Schon gar nicht wird auf Ergebnisse der Forschung Bezug genommen. Es kennzeichnet das Herangehen des Autors, dass gelegentlich Einzelkommentare von Erich Trunz aus der Hamburger Ausgabe angeführt werden, dass unter den Gesamtdarstellungen Goethes allein Friedenthals jahrzehntealte Monographie gelegentlich zitiert wird; im abschließenden (sehr lückenhaften) Literaturverzeichnis fehlen die Bücher von Conrady, Boyle und Safranski.

Worin besteht nun die Substanz von Oberlins „Kommentar“? Intellektuelle Redlichkeit hätte es nahegelegt, die Texte des Autors als interpretierende Einzelstudien auszuweisen, die ein ganz spezielles Verfahren kenntlich machen. Oberlin bevorzugt ein psychoanalytisch fundiertes Interpretieren, wendet sich der Liebesthematik und den psychischen Strukturen in Goethes Figurenensemble zu und zieht entsprechende Entwicklungslinien von der Jugend bis zum Alter. Dass in solchen Zusammenhängen produktive, das Verständnis fördernde Überlegungen entwickelt werden können, soll nicht bestritten werden. Vor etwa 20 Jahren haben die Herausgeber des Goethe-Jahrbuchs – solcher Einsicht folgend – sich darauf verständigt, Oberlins Interpretation von Goethes „Elegie“ zu veröffentlichen (Goethe-Jahrbuch 2006). Was er jetzt im Einzelnen entwickelt hat, sollte der mit dem jeweiligen Werk sich beschäftigende Wissenschaftler durchaus zur Kenntnis nehmen, selbst wenn er an vielen Punkten zu anderen Ergebnissen kommt. Einigermaßen ratlos wird aber ein Leser zurückgelassen, der das Buch mit der Hoffnung in die Hand nimmt, zu Goethe hingeführt zu werden; für wen es eigentlich bestimmt ist, muss offen bleiben.

Der Verlag wäre besser beraten gewesen, wenn er sich mit dem Autor auf eine Sammlung seiner Einzelstudien verständigt hätte. Das hätte aber, bei Lichte besehen, kaum einen zu publizierenden Band ergeben. Indem sich der Verlag darauf kapriziert hat, seine Reihe mit einem Goethe-Band auszustatten und dafür Oberlins Einzelstudien heranzuziehen – so meine Vermutung, die nicht unbedingt der situativen Realität entsprechen muss –, ist ein fauler Kompromiss zustande gekommen. Da mag die Frage müßig sein, ob das Unterfangen, den ‚ganzen‘ Goethe zwischen zwei Buchdeckeln vorzustellen, überhaupt gelingen kann. Durch ihre Platzierung in einer auf honorige Präsentation angelegten Buchreihe erhalten Oberlins teils überlegenswerte, teils abseitig spekulative Erwägungen einen Charakter von Gravität, der ihnen nicht zukommt. Veröffentlicht als Einzelpublikation, zusätzlich ausgewiesen als kritische Reflexion der Forschung (was hier nur ansatzweise geschieht), könnten sie ihren partiell innovativen Charakter unter Beweis stellen.

(c) Königshausen & Neumann

Gerhard Oberlin

Goethe verstehen. Text + Deutung

Würzburg 2024
402 Seiten
ISBN 978-3-8260-8191-0


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