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Rückblick auf die Tagung „Wozu Klassik? Zur Aktualität der klassischen Literatur in globalen Umbruchszeiten“ an der Peking-Universität

von Tingting Wu

Am 15. Oktober 2025 fand am Institut für Germanistik der Peking-Universität eine anregende Tagung unter dem Titel „Wozu Klassik? Zur Aktualität der klassischen Literatur in globalen Umbruchszeiten“ statt. Die Veranstaltung wurde vom Institut für Germanistik der Peking-Universität in Zusammenarbeit mit der Alexander von Humboldt-Stiftung sowie der Fakultät für Fremdsprachen der Huazhong-Universität für Wissenschaft und Technologie durchgeführt.

An diesem herbstlich klaren Tag kamen renommierte Expertinnen und engagierte Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler aus China und Deutschland zusammen, um über die künstlerischen Leistungen und die gesellschaftliche Relevanz der deutschen Klassik zu diskutieren. Die Begegnung war mehr als ein akademischer Austausch – sie war ein lebendiger Dialog zwischen unterschiedlichen Erfahrungen, Sprachen und wissenschaftlichen Traditionen, getragen von gemeinsamer Neugier und echtem Interesse an der Frage, was „Klassik“ heute noch bedeuten kann.

Prof. Dr. Hu Wei bei der Moderation.

Die Konferenz wurde von Apl. Prof. Hu Wei, der stellvertretenden Direktorin des Instituts, moderiert. In ihrer Eröffnungsrede begrüßte sie die Gäste herzlich und hob hervor, dass der Begriff „Klassik“ einen zeitlosen geistigen und künstlerischen Wert verkörpere, der in den Umbrüchen des 18. und 19. Jahrhunderts wurzelt und bis heute nichts von seiner Aktualität verloren habe. Besonders betonte Prof. Hu die lange Tradition der Klassik-Forschung an ihrem Institut: Bereits 1923 habe der bekannte Sinologe Richard Wilhelm am damaligen Deutschen Seminar einen „Faust“-Kurs angeboten.

Weitere Gelehrte wie Feng Zhi, Yang Yezhi, Tian Dewang, Fan Dacan und Zhang Yushu hätten mit ihren Studien zu Goethe und Schiller wichtige Grundlagen gelegt. 1983 wurde auf Initiative von Feng Zhi die Goethe-Gesellschaft in China gegründet, womit sich diese Forschungstradition weiter festigte. Damit spannte Prof. Hu in ihrer Rede den Bogen von den Anfängen der Germanistik an der Peking-Universität bis in die unmittelbare Gegenwart – eine mehr als hundertjährige Rezeptions- und Forschungsgeschichte. In jüngster Zeit zeugen Arbeiten wie die neue kommentierte „Faust“-Übersetzung von Prof. Gu Yu (2023) sowie das Engagement von vielen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern von der lebendigen Fortführung dieser Linie.

Zu Beginn der Tagung zeigten Studierende des Instituts ihre musikalischen und literarischen Talente – eine Darbietung aus Clara Schumanns „Drei Romanzen“ und Schillers „Nänie“ verliehen dem Auftakt eine feierliche und zugleich poetische Atmosphäre. Anschließend begrüßten Dr. Anna Janus, Kulturrätin der Deutschen Botschaft Peking, und Prof. Wang Jian, Vorsitzender des Wissenschaftsausschusses der Fremdsprachenfakultät der Peking-Universität, die Teilnehmenden. Beide betonten die bleibende Bedeutung der klassischen Literatur in Zeiten globaler Umbrüche sowie den Wert des interkulturellen Dialogs für die Geisteswissenschaften.

Die erste Sektion, moderiert von Dr. Xu Yi (Peking-Universität), stand im Zeichen der Verbindung zwischen klassischer Dichtung, Naturerfahrung und geschichtlicher Reflexion. Prof. Dr. Ernst Osterkamp (Humboldt-Universität zu Berlin / Carl Friedrich von Siemens-Stiftung) eröffnete mit dem Vortrag „Poetische Himmelskunde – Sonne, Mond und Sterne in Goethes Lyrik“. Er zeigte, wie Goethe durch eine „Poetik des Abglanzes“ das Verhältnis von Mensch, Wahrnehmung und Kosmos neu bestimmte und in der Ästhetik des Abendlichts eine Versöhnung von Endlichkeit und Unendlichkeit gestaltete. Anschließend sprach Prof. Gu Yu (Peking-Universität) über „Piraterie, Meeresfreiheit und die neue Ordnung Europas – Über den V. Akt von ‚Faust II‘“. Sie analysierte diesen Akt als dichterische Reflexion über Krieg, Handel und Piraterie – eine kritische Allegorie auf den Wandel Europas von einer Land- zu einer Seemacht. Den Abschluss bildete der Vortrag „Goethe zwischen Klassik und Romantik“ von Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken (Goethe-Universität Frankfurt / Freies Deutsches Hochstift). Anhand der Geschichte des Goethe-Hauses veranschaulichte sie, wie kulturelles Gedächtnis, Wiederaufbau und museale Praxis das Spannungsverhältnis von Kontinuität und Wandel erfahrbar machen.

Der zweite Teil des Workshops, moderiert von Dr. Yue Zihan (Peking-Universität), widmete sich theoretischen und textphilologischen Perspektiven. Dr. Lu Baiyu (Peking-Universität) sprach in ihrem Beitrag „Bei den Alten in die Schule gehen – Lessings Aristoteles-Lektüre in der ‚Hamburgischen Dramaturgie‘“ über die philosophische Verbindung zwischen Handlung und Charakter als Grundlage der Tragödientheorie. Prof. Dr. Mark-Georg Dehrmann (Humboldt-Universität zu Berlin) entwickelte mit seiner These „Klassik ist Moderne“ die Idee, dass die Moderne erst durch die produktive Aneignung klassischer Formen ein Bewusstsein ihrer eigenen ästhetischen Gesetzlichkeit gewinnt. Apl. Prof. Mao Mingchao (Peking-Universität) schloss die Sektion mit dem Vortrag „Wieder ein Glück ist erlebt – praxeologische Beobachtungen zu Yang Yezhis Hölderlin-Übersetzungen“. Anhand bisher unveröffentlichter Materialien zeigte er die kreative Dimension von Übersetzung als schöpferischem und zugleich reflektiertem Akt.

An die Vorträge schloss sich eine lebhafte Diskussion an, in der Fragen zur sprachlich-bildhaften Rekonstruktion in der Übersetzung deutscher Lyrik ins Chinesische, zur Spannung zwischen ästhetischer Theorie und künstlerischer Praxis sowie zur Weiterentwicklung des Charakter-Begriffs im 19. Jahrhundert vertieft wurden.

Zum Abschluss fasste Apl. Prof. Mao Mingchao die Ergebnisse des Workshops zusammen und dankte allen Referentinnen und Teilnehmenden für ihr engagiertes Mitwirken. Er betonte, dass die Rezeption und Erforschung der klassischen Literatur stets von den konkreten, gegenwärtigen Fragen der Wissenschaftlerinnen lebt. Gerade in der Überschreitung sprachlicher, kultureller, zeitlicher und geographischer Grenzen entfaltet die Klassik ihre anhaltende Lebendigkeit – dort, wo sich Vergangenheit und Gegenwart, Klassik und Moderne, Ost und West begegnen und im Dialog neue Perspektiven entstehen.

(Der vorliegende Text wurde auf Grundlage der Chinesischen Tagungsergebnisse und begleitender Materialien erstellt und redaktionell überarbeitet. Mit Dank an alle Kolleginnen, die Materialien und Fotos zur Verfügung gestellt haben: Liang Guoling, Lü Shuting, Liu Mingqian, Ying Linqi, Gao Yingqi, Han Chunrui.)


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