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Eine kleine deutsche Kulturgeschichte in nuce


Bertold Heizmanns Band zum 100jährigen Bestehen der Essener Ortsvereinigung

„Kultur an die Stätten der Arbeit“ (S. 26) zu bringen, war das Ziel des Essener Oberbürgermeisters Dr. Hans Luther. Mit diesem Motto begrüßte er am Geburtstag des Dichters, dem 28. August, 1920 in der „Kruppschen Bücherhalle“ die Gründungsmitglieder der Essener Goethe-Gesellschaft. Ob die Vereinsgründung auch „mittags mit dem Glockenschlage zwölf“ geschah, ist leider nicht überliefert, aber diese Gesellschaft wurde so nachhaltig und erfolgreich etabliert, dass die Essener Ortsvereinigung als eine der ältesten im deutschen Sprachraum tatsächlich als einzige übriggeblieben ist, die ihre Tradition ununterbrochen bis heute fortsetzen konnte und deshalb in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiern darf. 

Aus diesem Grund hat der Vorsitzende Dr. Bertold Heizmann jetzt eine Chronik oder angemessener: Festschrift verfasst und ihr den Titel gegeben: „‚Die Kultur an die Stätten der Arbeit!‘ 100 Jahre Goethe-Gesellschaft Essen 1920 – 2020“. Natürlich war dieses kulturelle Ansinnen nur bedingt realistisch; zwar diente die „Bücherhalle“ der Volksbildung, aber die Goethe-Gesellschaft rekrutierte ihre Mitglieder dann doch nicht an Werkbänken, eher an Schreibtischen, in Hörsälen und hinter Kathedern. Im Westen sollte der Industriestandort Essen als Motor eines geistigen Aufbruchs auch zu einer Kulturmetropole aufsteigen und die Goethe-Freunde sahen sich berufen, daran mitzuwirken. 

Bertold Heizmanns Darstellung besteht hauptsächlich aus zwei Teilen: Er schildert „Historisches“ (S. 13 – 55) und „Produktives“ (S. 57 – 83). Ein sehr persönliches Grußwort hat der Präsident der internationalen Weimarer Muttergesellschaft, Professor Dr. Stefan Matuschek, beigesteuert und hebt dabei einen wohl für die meisten Ortsvereinigungen ganz wesentlichen Aspekt hervor, der ihm bei den Gesprächen in Essen einmal mehr in besonderem Maße bewusst geworden sei: dass „Gegenstände und Fragen der Geisteswissenschaften nicht vollends in den professionellen Seminarbetrieb eingeschlossen sind, sondern auch ein gesellschaftliches Leben haben“, mehr noch, „dass die Goethe-Gesellschaft die Geisteswissenschaften aus ihrer professionellen Selbsteinkapselung befreien“ könne. (S. 8) Letztlich bedeutet diese Erkenntnis nicht weniger, als dass die mitunter belächelten und als akademisch-betulich unterschätzten Ortsvereinigungen Hans Luthers kühne und moderne Forderung in die Tat umsetzen, Kultur „an die Stätten der Arbeit“ zu holen oder salopp: aus den Musentempeln ins öffentliche Leben.   

Deutsche Geschichte gespiegelt

Besonders lesenswert geriet dieser schmale Band, weil es Bertold Heizmann gelingt, anschaulich zu zeigen, dass und wie sehr sich in der Entwicklung der Weimarer Gesellschaft und der Ortsvereinigungen die deutsche Geschichte insgesamt spiegelt, dass man ihre Entwicklung hier wie unter einem Brennglas verfolgen kann. Das bringt die Beobachtung mit sich, wie mit Goethe seit seinem Tod umgegangen wurde: in deutschen Landen oder später dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, der Nazi-Diktatur und nach 1945 in beiden deutschen Staaten. Als ein „Abbild deutscher Kulturgeschichte, insbesondere der Funktion von Literatur“ (S. 10) könne man diese Entwicklung verstehen, schreibt Bertold Heizmann: „Welche Rolle nimmt Literatur in den jeweiligen Zeitepochen ein, welchen Schwankungen und Missbräuchen ist sie ausgesetzt?“ (S. 10) 

Bereits im neu gegründeten Kaiserreich 1870/ 71 wurde der überzeugte Weltbürger und Weltliterat Goethe nationalistisch eingemeindet und damit in seiner Bedeutung deutlich unter Wert „verkauft“, posthum war er dieser „Verehrung“ oder genauer „Verklärung“ wehrlos ausgeliefert – Chauvinisten sehen und sahen das freilich anders. So paradox das klingen mag: Diametral Goethes Intentionen entgegen gesetzt bewegte sich die Goethe-Vereinnahmung im Dritten Reich. Das sei auch in Essen nicht anders gewesen: „Obwohl Goethe sich wahrlich nicht für martialische Propaganda einsetzen lässt, gab es doch zahlreiche Amtsträger, die genau dies taten.“ (S. 11)  

Dass die Goethe-Gesellschaft um 1885 ein getreues Abbild der feudalen Stände-Ordnung war, lässt sich bereits an frühen Mitgliederlisten ablesen. Adel und Hochadel, „beginnend mit ‚Seiner K. u. K. Majestät Wilhelm II., Kaiser von Deutschland und König von Preußen‘“, sind die ersten Seiten gewidmet. Erst danach folgt die normale Bevölkerung, freilich eher aus dem gehobenen Bürgertum. Zunächst ging es noch liberal zu. Als erster Präsident wurde Eduard von Simson gewählt, obwohl er jüdischen Glaubens war, ein Jurist und hervorragender Goethe-Kenner, der den Dichter noch persönlich getroffen hatte, dank einer Empfehlung Zelters.

Abkehr von Goethes Weltbürgertum und Denkfreiheit  

Spätere Präsidenten begriffen sich „als Vertreter preußisch-deutscher Interessen in Weimar“ (S. 20), das führte zu Spannungen: “Demokratische Kräfte sehen darin eine Abkehr von ‚goetheschem Weltbürgertum und goethescher Denkfreiheit‘, die durch ‚engherzige Orthodoxie, Verpfäffung der Schulen, Einschnürung der Wissenschaft‘ abgelöst würden.“ (S. 20) Nach dem Kriegsende 1918 geben jene bürgerlichen Kräfte in der Weimarer Gesellschaft den Ton an, die der Republik eher negativ gegenüberstehen. Als „lächerliches Machwerk“ habe der damalige Präsident in Weimar, „der ausgemachte Antisemit und Demokratieverächter“ (S. 21) Gustav Roethe, die Weimarer Republik bezeichnet, lange vor 1933. Julius Petersen, ein weiterer Präsident, sei überzeugt von „Goethes vaterländischem Fühlen“ gewesen und “politisch beherrscht von präfaschistischem Gedankengut.“ (S. 22)

Liberaler geprägt waren Ton und Programme in manchen Ortsvereinigungen. Als 1929 ein Vorstandsposten in Weimar neu zu besetzen gewesen sei, schlugen die Berliner Thomas Mann vor, zu seiner Berufung kam es allerdings nicht. In Essen organisierten die Goethe-Gesellschaft und die „Akademischen Kurse“ ein modernes und an humanen, demokratischen Ideen orientiertes Vortragsprogramm, unter anderem mit Referenten wie Heinrich und Thomas Mann oder Hermann Hesse. Ab 1933 änderte sich das politische Klima, Mitglieder jüdischen Glaubens wurden ausgeschlossen, „‚nichtarische‘ Vortragende erhalten Redeverbot“ (S. 33). Stattdessen lauscht man Ina Seidel, Erwin Guido Kolbenheyer oder Hans Carossa. 

Trotz der während des Krieges deutlich erschwerten Bedingungen, weil mögliche Vortragsorte zerstört werden und wegen der Verdunkelung Veranstaltungen nachmittags stattfinden, gelingt es der Essener Ortsvereinigung, Vorträge anzubieten und bei Kriegsende im Mai 1945 immerhin 225 Mitglieder vorweisen zu können. Offenbar boten während des Krieges die Goethe-Gesellschaften vielen Menschen eine willkommene Ablenkung von den Kämpfen und eine Alternative zum kulturellen Kahlschlag des Regimes. An der Weser gelang sogar trotz des Krieges ein neuer Beginn: „Bremen – so wie Essen besonders von Bombenangriffen getroffen – erfährt 1941 eine Neugründung durch den Verleger des Insel-Verlags, Anton Kippenberg (seit 1937 Präsident der Weimarer Muttergesellschaft). (S. 36) Und Bertold Heizmann nennt den Titel eines Vortrags von Ernst Beutler 1942 im „zerbombten Bremen“, allein der spricht für sich: „Trost und Weisheit bei Goethe“ (S. 36). Damals dürften innerhalb der Ortsvereinigungen handfeste Kontroversen bestanden haben, gewiss nicht öffentlich ausgetragen, etwa wenn der stellvertretende Vorsitzende, der Essener Oberbürgermeister Just Dillgardt, ein Partei- und SS-Mitglied, laut davon träumte, aus der Bevölkerung „die nicht Besserungsfähigen und die rassisch Minderwertigen abzusondern bzw. auszumerzen“. (S. 37)   

Neubeginn in zwei Staaten 

Bereits im Oktober 1945 fand in Bredeney – innerhalb Essens waren geeignete Räume zerstört – die erste Veranstaltung nach dem Krieg statt: Man lauschte Schuberts Vertonungen von Goethe-Liedern. Bald nach der Gründung der beiden deutschen Staaten stellte sich die Frage, ob es eine gemeinsame Muttergesellschaft noch geben könne. Am 18. und 19. April 1952 trafen sich die westdeutschen Mitglieder zur Jahresversammlung in Essen, „mit dem Gesicht nach Weimar“ (S. 41), wie der Präsident der gesamtdeutschen Weimarer Gesellschaft Andreas B. Wachsmuth betonte; die Behörden der DDR hatten diese Begegnung in Weimar verweigert. Danach finden die Hauptversammlungen wieder alle zwei Jahre dort statt, westdeutsche Besucher können teilnehmen. Für viele Bundesbürger eine ideale Gelegenheit, ohne Probleme in die DDR einreisen zu können, um Freunde oder Verwandte zu treffen. Über die Jahre der Teilung bildet die Goethe-Gesellschaft ein verbindendes Element und der „Vorstand ist bemüht, parteipolitische Neutralität zu wahren: Die Goethe-Gesellschaft sollte ihren rein wissenschaftlichen Charakter behalten.“ (S. 41) 

Mitgliederzahlen erreichte die Essener Gesellschaft, von denen man heute nur träumen kann: 1950 immerhin 367 und 1960 sogar 470 Mitglieder! Die Essener setzten auf Kontakt zu benachbarten Goethe-Freunden, etwa in Köln, Bonn oder Aachen sowie zum Goethe-Museum in Düsseldorf, inzwischen im Schloss Jägerhof. In die Landeshauptstadt hatten die Töchter des langjährigen Präsidenten Anton Kippenberg großzügig dessen bedeutende Sammlung an Manuskripten, Erstausgaben und anderen Goethe-Memorabilien als Stiftung gegeben; leider ist dieses kulturelle Aushängeschild Düsseldorfs baulich inzwischen in einem erbärmlichen Zustand. Großartige Zeugnisse der Literatur an einem historischen Ort, einem Schloss, dessen Elektrik noch geschichtsträchtiger zu sein scheint als der Rokokobau – unwillkürlich fühlt man sich an den Brand der Weimarer Bibliothek erinnert. 

Die Liste der Referenten, die nach Essen kamen, liest sich wie ein Who’s who der geistigen Welt: Marie Luise Kaschnitz, Ortega y Gasset, Ludwig Curtius, Erich Trunz oder Hans Mayer – um nur einige zu nennen. Besonders bemüht sich die Gesellschaft, junge Leute anzusprechen, bietet Veranstaltungen an: „Rap meets Goethe“, lädt 2012 die Vorstände der Ortsvereinigungen zu ihrer Jahrestagung ein, um Fragen wie diese gemeinsam erörtern zu können. Kontaktpflege belebt eine Gemeinschaft: Diesem Anliegen dient die Zeitschrift „Lynkeus – Mitteilungen und Veröffentlichungen der Goethe-Gesellschaft Essen e. V.“ Sie will „die Arbeit unserer Gesellschaft präsentieren, auf Vergangenes und Künftiges hinweisen“. (S. 49) 

Dem detaillierten und umfassenden Rückblick auf „Vergangenes“ – quasi der „Pflicht“ einer Festschrift: der Vereinsgeschichte – folgt eine Art Kür: des Jubiläumsbandes zweiter Teil, „Produktives“ überschrieben (S. 57 – 87). Hier sind Auszüge von Vorträgen nachzulesen, die in den vergangenen Jahrzehnten in Essen zu erleben waren und indirekt demonstrieren, warum diese Ortsvereinigung so lange erfolgreich bestehen konnte und gern von den Mitgliedern getragen wurde. Koryphäen konnte man hier gewinnen wie Max Planck, Umberto Scaldini, Jochen Schmidt oder Karl Otto Conrady. Illustriert ist der Band unter anderem mit Zeichnungen von Rolf Escher, die Ansichten aus Weimar zeigen, und mit historischen Fotos. Dieser Überblick über die Entwicklung der Essener Ortsvereinigung der internationalen Goethe-Gesellschaft liest sich wie eine regionale Kulturgeschichte, die aber doch bezeichnende Ausblicke in die deutsche Literatur- und Geisteswelt gewährt, wenn man so will, lässt sie sich als eine kleine deutsche Kulturgeschichte in nuce verstehen.

Bertold Heizmann:
„Die Kultur an die Stätten der Arbeit!“ 100 Jahre Goethe-Gesellschaft Essen

Klartext Verlag, Essen 2020
88 S.
ISBN: 978-3-8375-2332-4

Preis: 9,95 €

Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter der Goethe-Gesellschaft, Ausgabe 4/2020.


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